Montgomery u Stapleton 06 - Crisis
lehnte sich auf der harten Eichenbank zurück und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Prozess. Tony stand am Pult, und Dr. Herman Brown saß im Zeugenstand. Vor dem Richtertisch huschten die Finger der Protokollführerin unablässig über ihre kleine Stenographiemaschine, um ein wörtliches Protokoll anzufertigen. Eine geschlagene Viertelstunde lang befragte Tony den Zeugen zu seinen beeindruckenden akademischen und klinischen Referenzen. Als Leiter der kardiologischen Abteilung am Boston Memorial Hospital hatte er gleichzeitig den Lehrstuhl für Kardiologie an der medizinischen Fakultät von Harvard inne.
Randolph war mehrmals aufgestanden und hatte angeboten, die Qualifikation des Zeugen als unstreitig anzuerkennen, um dem Gericht Zeit zu sparen, aber Tony hatte sich nicht beirren lassen. Er versuchte, die Geschworenen zu beeindrucken, und seine Taktik ging auf. Für alle wurde zunehmend ersichtlich, dass man kaum einen qualifizierteren oder auch nur gleichermaßen qualifizierten Sachverständigen auf dem Gebiet der Kardiologie finden würde. Auch die Erscheinung und das Auftreten von Dr. Brown trugen zu diesem Bild bei. Ihn umgab die gleiche Aura eines Angehörigen der Bostoner Upperclass wie Randolph, jedoch ohne den leisesten Anflug von Geringschätzung oder Herablassung. Statt kühl und distanziert wirkte er freundlich und liebenswürdig: die Art von Mensch, der einen Umweg machen würde, um einen kleinen aus dem Nest gefallenen Vogel zurückzulegen. Sein Haar war großväterlich weiß und gepflegt, seine Haltung aufrecht. Seine Kleidung war ordentlich, aber nicht zu elegant und wirkte bequem und gemütlich. Er trug eine Fliege mit Paisley-Muster. Er verstrahlte sogar einen Hauch von unangemessener Bescheidenheit, als Tony sich alle Mühe geben musste, ihn dazu zu bringen, widerstrebend seine Auszeichnungen und Leistungen einzugestehen.
»Warum sagt dieser Medizintitan in einem Behandlungsfehlerprozess für den Kläger aus?«, flüsterte Jack Alexis zu, aber es war eher eine rhetorische Frage, und er erwartete keine Antwort. Ihm kam der Gedanke, dass der Grund vielleicht etwas mit Noelle Everettes unerwarteter Bemerkung über Concierge-Medizin zu tun hatte: »Einige von uns altmodischen Ärzten ärgern sich über diese Concierge-Ärzte.« Vielleicht gehörte auch Dr. Brown zu dieser Gruppe, da das Konzept der Concierge-Medizin in krassem Widerspruch zu der neuen Berufsethik stand, die die medizinischen Fakultäten vertraten, und mehr als jeder andere in diesem Prozess stand Dr. Herman Brown für die akademische Welt.
»Dr. Brown«, sagte Tony, während seine kurzen, dicken Finger die Ränder des Pults umklammerten. »Bevor wir zu Patience Stanhopes tragischem und vermeidbarem Tod kommen …«
»Einspruch«, rief Randolph mit Nachdruck. »Es ist keineswegs erwiesen, dass Mrs Stanhopes Tod vermeidbar gewesen wäre.«
»Stattgegeben!«, verkündete Richter Davidson. »Formulieren Sie die Frage neu!«
»Bevor wir zu Patience Stanhopes tragischem Tod kommen, möchte ich Sie fragen, ob Sie bereits zuvor mit dem Beklagten, Dr. Craig Bowman, in Kontakt gekommen sind.«
»Ja, das bin ich.«
»Würden Sie den Geschworenen erklären, in welcher Eigenschaft?«
»Einspruch, Euer Ehren«, warf Randolph verärgert ein. »Unerheblich. Und falls es in irgendeiner unergründlichen Weise doch von Belang sein sollte, erhebe ich Einspruch gegen Dr. Brown als Sachverständigen wegen Befangenheit.«
»Die Anwälte bitte an meinen Tisch«, befahl Richter Davidson.
Gehorsam trafen sich Tony und Randolph an der Seite des Richtertisches.
»Ich werde äußerst ungehalten, falls es zu einer Wiederholung von Montag kommen sollte«, erklärte Richter Davidson. »Sie sind beide erfahrene Anwälte. Verhalten Sie sich gefälligst auch so! Sie kennen beide die Regeln. Und nun zu der Richtung, in die Ihre Fragen zielen, Mr Fasano! Darf ich annehmen, dass Sie dafür relevante Gründe haben?«
»Auf jeden Fall, Euer Ehren! Der Kern unseres Standpunkts berührt die Frage von Dr. Bowmans Einstellung zu seinen Patienten im Allgemeinen und Patience Stanhope im Besonderen. Ich möchte dem Gericht nur noch einmal die abschätzige ›PP‹-Kennzeichnung in Erinnerung rufen. Dr. Brown ist in der Lage, uns einen Einblick in die Entwicklung dieser Haltung während Dr. Bowmans entscheidendem drittem Jahr an der medizinischen Fakultät und während seiner Zeit als Assistenzarzt zu verschaffen. Spätere Zeugenaussagen werden diese unmittelbar mit
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