Moor
Gefühlen, die Erinnerung an ihren Kollaps darin, damals im Herbst; ging all das nun wieder von vorn los?
Ihr Körper sank gegen dich, lastete auf dir, dann stieß sie dich unvermittelt weg und starrte zum Fenster, wo du im Widerschein vor der Nacht die gleiche Szene spiegelverkehrt sahst, zwei reglose, fast gleich große Silhouetten, eine Frau und einen sehr jungen Mann mit verzerrten, wie aufgeplatzten Gesichtern, bis sie die Tür vor das Bild knallte und du auf dem Flur im Dunkeln standst.
Der Holländer, dachtest du. Der Fremde, den sie in Groningen getroffen hatte. Irgendeiner, den sie nur deshalb angesprochen, sich vielleicht sogar zu diesem Zweck seine Telefonnummer notiert hatte. Wenn Daniel sich weigerte, würdet ihr eben in stillem Einvernehmen den Holländer zum Vater, Stiefvater des Bruders machen, den du dir um jeden Preis zurück in ihren Bauch wünschtest.
Auf dem Weg vom Bahnhof zur Klinik war sie vor einem Café stehen geblieben. Heulende deutsche Frauen fallen hier auf, hatte sie gesagt und auf ihr bekümmertes Spiegelbild in der großen Glasscheibe gedeutet, hinter der junge Leute dichtgedrängt an den Tischen saßen. Sie schnäuzte sich in ein Taschentuch, befahl dir, draußen zu warten, und ging hinein. Du hast dich an ein Verkehrsschild gelehnt und die plappernden Grüppchen beobachtet, die sich in der Tür stauten. Nach zehn Minuten war sie noch immer nicht zurück. Der Termin war für ein Uhr angesetzt, jetzt rückte der Zeiger deiner Armbanduhr auf Viertel vor. Auf der Straße herrschte dichter Verkehr, Passanten eilten vorüber, niemand beachtete dich. Du hast den Gesprächsfetzen gelauscht, verzischte oder schlurrende Laute einer fremden Sprache, die du im Kopf zu Buchstabenfolgen zusammenfügtest, die nur weiche Konsonanten enthielten. Ob du auch auf Niederländisch stottern würdest?, fragtest du dich. Jede Bewegung der schweren Glastür ließ dich aufschrecken. Neben dem großen, blonden Mann hättest du sie fast nicht erkannt. Sie war geschminkt und frisch frisiert, in den Gläsern ihrer schwarzen Brille spiegelte sich die Sonne, als sie zu dir herübernickte. Der Mann beugte sich vor, flüsterte ihr etwas ins Ohr, sie lachte auf, gab ihm die Hand und sagte laut: Tot ziens.
Du hast die Worte im Kopf nachgesprochen, mit deutschen Konsonanten klangen sie spitzer und härter, eher wie ein Schlachtruf: Tott Zzienz ! Sie kam auf dich zu, zog dich von der Metallstange weg, nahm deine Hand und sagte: Bringen wir’s hinter uns, mit übertriebenem holländischem Akzent, so dass du erst ein paar Sekunden später verstanden hast, was sie gemeint hatte. Im Kopf drehtest du das Wort weiter, immer herum um seine eigenen Konsonanten, bis sie genauso geschmeidig schnurrten wie der Singsang der Satzfetzen, die herüberflogen, aus den Gesprächen der Fußgänger, die nun alle die Köpfe wandten und mit neugierigen Blicken der deutschen Mutter mit ihrem jungen Geliebten an der Hand in die Abtreibungsklinik folgten, während es von allen Seiten tot ziens! zischelte, und tatsächlich hast du am Abend in ihrer Handtasche, die du vorm Schlafengehen durchwühltest, einen zusammengeknüllten Zettel gefunden, darauf eine lange Telefonnummer mit ausländischer Vorwahl und ein eilig hingekritzelter Gruß: Bis bald!
◆◆
Der Countdown läuft, die Zeitbombe tickt, in der Ferne tönt eine Sirene. Sie räumen die Gebäude diesseits der Jumme, den Kliewe-Hof und die Lagerhallen des Holzhandels, denn der Wind hat gedreht. Noch steht die Sonne voll Kraft im Mittag, die Dörfler sitzen zu Tisch oder beugen sich über die Arbeit, niemand schaut jetzt zum Teich, keiner würde dich sehen; der Augenblick, Dion, ist günstig. Die Armbanduhr zeigt kurz vor eins. Dein Bus fährt in fünfzehn Minuten vom Kirchplatz ab; wenn du wie geplant zwei Haltestellen weiter, am Abzweig Pellhof, einsteigen willst, wo nie jemand wartet, musst du jetzt los. Was zögerst du noch? Alles, was für deinen Entschluss nötig ist, hast du durchdacht, geordnet und die nötigen Konsequenzen gezogen.
Vergewissere dich noch einmal mit einem letzten Blick: dort die Ebene, das Gras, die Brüche und Birken, Schlenken und Bulte, das eintönige Auf und Ab der Linien, unverändert in all den Jahren, immer gleich von deinem Platz auf dem Stumpf aus gesehen, grün, braun und selten rot, in unscheinbarer Blüte, zaudernder Fäulnis oder ohne jede Form und Farbe im Schnee, mal kahl, mal belaubt, voller Gestalten imNebel und unsichtbar hinter der
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