Moorehawke 01 - Schattenpfade
wahr?«
Lorcan nickte. Es stand kaum zu erwarten, dass der König seinen Sohn in das überfüllte Gewimmel der öffentlichen Räume zwingen würde. Gleich, wie unzufrieden Jonathon auch mit Razi war – niemals würde er ihn in dem langen Gang warten lassen, in dem sich all die anderen, geduldig ausharrenden Bittsteller drängten.
Wynter schenkte ihrem Vater einen bedeutsamen Blick. Die privaten Audienzräume lagen nur zwei Stockwerke tiefer – beinahe unmittelbar unter ihren Gemächern. »Ich möchte nur, dass er mich sieht, Vater. Er soll wissen …«
Christopher war jetzt stehen geblieben und sah sie mit großen, hoffnungsvollen Augen an.
»Die Wachen dürfen dich nicht entdecken, mein Liebling«, warnte Lorcan sanft. »In allen Gängen werden Jonathons Soldaten postiert sein.« Wynter schob schon trotzig das Kinn vor, doch Lorcan fuhr nachdenklich fort: »Razi wird vermutlich den Weg über die mittlere Treppe in den blauen Gang einschlagen. Wenn du die Hintertreppe mit den zwölf Stufen nimmst und durch die Zwergentür gehst, dann könntest du dich in der Nische neben der Musikbibliothek verbergen. So
würde Razi dich, wenn er oben in den Flur einbiegt …« Lorcan hob den Blick. »Dort würde er dich sehen.«
»Ich komme mit«, erklärte Christopher mit Bestimmtheit. Seine Miene verriet unmissverständlich, dass er sich auf keinen Fall davon abbringen ließe.
Eine halbe Stunde später standen die beiden still und aufmerksam dicht nebeneinander am Ende des kurzen Gangs. Sie konnten Jonathons Männer hinter der Biegung hören, nur zehn oder elf Schritte weiter und nach links gewandt wären sie von ihnen umringt. Das wollte sich Wynter gar nicht vorstellen – erneut zwischen diesen großen Kerlen zu stehen. Es waren dieselben Männer, die gelacht hatten, als Jonathon Christophers Kopf gegen den Baumstamm geschlagen hatte. Dieselben Männer, die ihn verspottet und schreiend und blutend den Hügel hinab in den Kerker geschleppt hatten.
Wynter gab sich Mühe, ruhig und leise zu atmen. Sie ließ die Treppe vor sich nicht aus den Augen. Was, wenn Razi einen anderen Weg wählte? Was, wenn er hier – wie er es sich zur Gewohnheit gemacht hatte – umgeben von Soldaten eintraf? Was, wenn er einfach vorbeilief und nicht einmal den Blick hob?
Christopher neben ihr war reglos und geduldig wie ein Stein. Seine Augen hafteten fest auf dem oberen Treppenabsatz, und falls er so viel Angst vor den Wachen hatte wie Wynter, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.
Es kam ihr vor, als warteten sie schon sehr lange dort, und sie fragte sich allmählich, ob Razi nicht längst beim König war, als sich Christopher plötzlich aufrichtete und von der Wand löste. Sie tat es ihm nach, wobei ihre Schulter seinen Arm streifte, und horchte angestrengt.
Da! Stiefel auf der Treppe. Ein Mann, der mit großen Schritten die Stufen nahm. Razi!
Mit gesenktem Haupt eilte er hinauf, und einen schrecklichen Moment lang glaubte Wynter, er würde um die Ecke biegen, ohne sie überhaupt zu bemerken. Doch auf dem obersten Absatz, unmittelbar bevor er in Sichtweite der Wachen kam, blieb Razi jählings stehen. Die Stirn hatte er in Falten gezogen, den Kopf immer noch gebeugt, seine Augen flatterten unruhig. So verharrte er kurz, eine Hand an die Wand gestützt, die andere zur Faust geballt.
Dann holte er tief Luft und straffte die Schultern. Wynter konnte zusehen, wie Razi die Maske aufsetzte: Seine Verunsicherung, die Angst in seinen Zügen, all das wurde überdeckt von dem gleichmütigen, eisigen Gesichtsausdruck, der für die Augen des Hofs bestimmt war. Der Blick unter den ungebärdigen Locken wurde hart, und die Augenbrauen hoben sich in hochmütiger Verachtung. Dann drückte er den Rücken durch, warf den Kopf hoch – und sah Wynter direkt in die Augen.
Bei ihrem Anblick zersprang Razis Maske in eine Million Splitter, er taumelte zwei Schritte rückwärts, ehe er sich wieder fing. Sein Blick wanderte zwischen ihr und Christopher hin und her, dann blinzelte er hastig, als versuchte er, sie aus seinem Sichtfeld zu vertreiben.
Wynter fühlte sich, als würde sie sich auflösen. O Gott, dachte sie. Wir haben das Falsche getan, wir haben das Falsche getan! Aber nun waren sie hier, und es war zu spät, also legte sie alles, was sie empfand, in diesen einen Blick. Ich liebe dich, versuchte sie ihm zu sagen. Ich bin bei dir. Du bist nicht allein.
Razis Augen wurden riesig und glänzend. Er machte noch einen Schritt
Weitere Kostenlose Bücher