Moorehawke 01 - Schattenpfade
rückwärts.
Da trat Christopher vor. Er hob einen Finger an die Lippen und sah seinen Freund eindringlich an. Razi erwiderte
den Blick verzweifelt. Christopher senkte den Finger wieder und stellte sich gerade hin – die Füße zusammen, die Miene gefasst. Er hob die Hand an die Stirn, stellte einen Fuß vor und verneigte sich dann in der vollkommensten höfischen Verbeugung, die Wynter jemals gesehen hatte.
Razi stieß ein leises, lachendes Schluchzen aus. Er betrachtete den gesenkten Kopf seines Freundes, nickte und atmete tief durch. Dann drückte er erneut die Schultern durch. Als sich Christopher endlich aufrichtete, hatte Razi die Maske wieder aufgesetzt. Die beiden Männer sahen einander über die Entfernung hinweg an, ihre Haltung steif, die Gesichter ernst.
Schließlich deutete Razi ein Nicken an, und Christopher lächelte und tat dasselbe.
Nun blickte Razi Wynter in die Augen, und sie entdeckte eine winzige Spur Wärme, ein kaum wahrnehmbares Zucken seiner Mundwinkel, bevor er sich verneigte. Und obschon sie noch ihre Arbeitskleidung trug, machte sie einen Knicks, der des schönsten Kleides würdig gewesen wäre. Sehr lange hielt sie den Kopf gesenkt, und als sie sich wieder erhob, hatte er seinen Weg bereits wieder aufgenommen, wie es einem königlichen Prinzen in Anwesenheit seiner Untertanen geziemte.
»Du siehst wunderschön aus, meine Kleine!«
»Danke, Vater.« Wynter blieb in der Tür zu Lorcans Schlafkammer stehen und strich aufgeregt über den smaragdgrünen Seidenstoff ihrer Röcke. Es war beinahe Zeit, zum Bankett zu gehen, sie hatte das Ankleiden bis zum letzten Moment hinausgeschoben, doch nun musste sie aufbrechen.
Lorcan betrachtete sie vom Bett aus. Er lag unter einem
Berg aus Decken und bibberte trotz des prasselnden Feuers erbärmlich. Neben ihm stand Christopher, nur in kurzem Hemd und Hose, barfuß, die Ärmel bis zu den Schultern aufgekrempelt. Er schwitzte in der ungeheuren Hitze, seine Augen und die Armreife glänzten im Flammenschein.
Beide Männer betrachteten Wynter, als stünde sie kurz davor, auf dem Scheiterhaufen geopfert zu werden. Sie hatten den ganzen Tag auf Razi gewartet und waren davon völlig erschöpft. Angst und Sorge um ihn hatten sie betäubt, und ihre Augen blickten starr und übermüdet aus den Höhlen. Wynter wollte sich so gern zu ihnen setzen, doch sie wäre nur innerhalb kürzester Zeit schweißgebadet und würde sich das Kleid zerknittern.
Außerdem, dachte sie, bleibt mir keine Zeit mehr.
Sie hatte gehofft, Razi würde sie zum Ballsaal geleiten, hatte gehofft, er stünde ihr beim Gang durch die königlichen Gemächer wieder zur Seite. Doch Razi war nicht erschienen. Sie wusste jetzt, dass er nicht mehr kommen würde, und musste sich damit abfinden. Hoffentlich geht alles gut. Bitte. Bitte.
»Ich muss gehen«, sagte sie.
Die Männer nickten, und Wynter drehte sich um. Bevor sie die Tür zum Gang öffnete, sah sie sich noch einmal um. Christopher war in Lorcans Tür getreten und sah ihr nach.
»Christopher«, mahnte sie, »lauf nicht im Palast herum.«
Er sah sie nur wortlos an, das Gesicht in die Schatten geschmiegt, dann verschwand er wieder in der Kammer.
»… Euch daran erinnern, dass der König ein Gelehrter ist.«
»Das mag schon sein, jedoch versteht er sich auch ausgezeichnet darauf, Schädel zu zerschmettern, wie man hört … Dieser Junge allerdings wüsste doch nicht einmal, von welcher
Seite er den Quintan attackieren soll, im Gegensatz zu Alberon …«
»Mit Verlaub – aber habt Ihr das Gesicht des Königs gesehen? Für jemanden, der angeblich verweichlicht ist, hat der Araber …«
Die Höflinge hielten inne, als Wynter durch ihre vornehm gekleideten Reihen schritt. Jemand weiter vorn, der ihr den Rücken zugewandt hatte, sagte herrisch: »Schläge reichen da nicht aus. Zu meines Großvaters Zeiten wurden Sodomiten auf dem Scheiterhaufen …«
Einer seiner Gefährten zischte: »Achtung, feindliche Ohren!«, woraufhin das Gespräch geschmeidig auf Jagdhunde gelenkt wurde. Wynter ging vorbei, ohne langsamer zu werden.
Anmutig wand sie sich durch das dichte Gedränge aus Hohen Herren und Damen, nickte und knickste und tauschte im Vorübergehen Höflichkeiten aus. Da fand sie sich plötzlich auf einer freien Fläche wieder, ohne einen Menschen um sich herum, und blickte sich verwirrt um. Hinter ihr wurden die Gespräche fortgesetzt, als hätte sich nichts verändert.
Sie stand nur etwa zehn Fuß von der Tür zu
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