Moorehawke 01 - Schattenpfade
Doch ohne sie anzusehen, drehte sich Rory müde um und wischte vor der Türklinke durch die Luft. Wynter hörte etwas Schweres im Schloss knirschen, dann schwang die Tür lautlos auf. Rory schlüpfte in die Dunkelheit, und ohne weiteres Zögern – fast gegen ihren eigenen Willen – folgte sie ihm.
Unmittelbar hinter der Tür war Rory stehen geblieben und betrachtete mitfühlend den Stuhl. Die fieberhaften Gebete waren zu einem eintönigen, gedämpften Singsang verklungen: »Nunc et in hora mortis nostrae … nunc et in hora mortis nostrae …« Das seufzende Flüstern wurde von den Wänden zurückgeworfen. Mittlerweile zitterte jeder Zoll ihres Körpers, und Wynter brachte es nicht über sich, die Augen von Rory zu lösen.
»Ich muss jetzt gehen«, murmelte er und sah sie endlich sanft an. »Sei freundlich zu ihm. Er hat bereits zu viel gelitten und kann es nicht hinter sich lassen.« Plötzlich keuchte Rory
auf und starrte angestrengt in die Dämmerung vor sich. »Ich muss gehen!«, rief er, schlang die Arme um sich und drehte sich um. Abrupt eilte er auf die rückwärtige Wand zu. »Vergiss nicht, kleine Moorehawke … Schnell und weit … Sobald ich dir sage … lauf …« Und damit war Rory verschwunden, mühelos hatte er die Mauern der Folterkammer durchschritten.
Wynter hielt den Blick auf das langsam verblassende Leuchten geheftet, das Rorys Geisterkörper auf der Wand hinterlassen hatte, so lange, bis es verschwunden war. Dann wandte sie sich widerstrebend dem flüsternden Mann zu.
Anfangs war er nur eine verschwommene Gestalt. Eine schimmernde menschliche Gestalt, die Arme weit ausgebreitet auf den schwarzen Lehnen des Stuhls. Doch je genauer Wynter hinsah, desto deutlicher schälte er sich heraus, und sie musste den Blick abwenden, damit die Übelkeit sie nicht übermannte.
»Mary?«, wisperte er. »Mary?« Wynter glaubte zunächst, er betete immer noch. Doch dann erkannte sie im trüben Licht, dass er suchend den Kopf von einer Seite zur anderen wandte. »Mary?«, flüsterte er erneut, und Wynter konnte die schwarzen Löcher erkennen, wo die Folterknechte ihm die Zähne gezogen hatten. Er musste ihre widerwilligen Schritte auf dem sandigen Fußboden vernommen haben, denn er richtete seine augenlosen Höhlen auf sie und folgte ihren Bewegungen, während sie auf ihn zukam. »Mary … sie haben mir wehgetan …«
Wynters Hand zitterte so heftig, dass sie Angst hatte, die Flamme könnte verlöschen. Also stellte sie die Kerze auf einem Tisch ab. Sie warf einen hellen Lichtschein auf die grausigen Gerätschaften, mit denen dieser arme Mann gemartert worden war, und Wynter wandte den Blick ab und
krallte vor Entsetzen ihre Hände ineinander. Razi war hier , dachte sie. Razi hat das geschehen lassen. Gott steh uns bei!
»MARY!«, schrie der Geist unvermittelt, und Wynter machte vor Schreck einen Satz. »MARY! Oh, bitte … mein Liebling … geh nicht fort …«
Sie konnte die Verzweiflung in seiner Stimme nicht ertragen und trat näher an ihn heran, die Finger ausgestreckt, als könnte sie ihn irgendwie berühren, trösten. »Ich bin hier«, log sie. »Es … es ist alles vorbei … Du bist … du …« Sie forschte in seinem gepeinigten Gesicht und wusste, dass es nicht vorbei war. Nicht für ihn. Entmutigt gab sie es auf, sich als Mary auszugeben. »Wie heißt du?«, fragte sie sanft.
Er wandte ihr den Kopf zu, stemmte den Hals gegen die Lederfesseln, die ihn nicht mehr festhielten. Aus diesem grausam zugerichteten Mund hätten die Worte undeutlich und verzerrt klingen müssen, doch das taten sie nicht – nein, seine Stimme war warm und vornehm und bar jeder Hoffnung. »Mary, Liebling? Bin ich so furchtbar? Erkennst du mich nicht?« Sein Kopf fiel zurück, der Mund stand weit offen. »Oh, erlöse mich«, flehte er. »Mutter Gottes, höre mich. Erlöse mich. Erlöse mich …« Wieder begann er zu beten. Wiegte verzweifelt den Kopf hin und her, seine leeren Augenhöhlen Quellen schimmernder Dunkelheit. Plötzlich bäumte er sich gegen seine unsichtbaren Fesseln auf und kreischte. Der Geruch von Feuer und verbranntem Fleisch flackerte im Raum auf, und Wynter schlug sich schluchzend die Hände vor Mund und Nase.
Draußen setzte ein leises Klagen ein, und ein kaum wahrnehmbares Beben durchzitterte die Sohlen ihrer Stiefel.
Ängstlich blickte sich Wynter um, doch da war nichts. Sie verspürte die drohende Ahnung, dass sie keine Zeit mehr zu verlieren hatte.
»Wie heißt du?«, fragte sie noch einmal,
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