Moorehawke 01 - Schattenpfade
wie eine Puppe an die Brust gepresst. Schnell und unregelmäßig schlug sein Herz.
»Vater«, flehte sie. »Nein!« Mit aller Kraft versuchte sie, sich aus seinem entschlossenen Griff zu befreien. »Vater! Bitte!« Er hielt sie so dicht an sich gedrückt, dass sie sein Gesicht nicht sah. Alles, was sie erkennen konnte, als es ihr endlich gelang, den Kopf etwas zu drehen, waren sein blutrotes Haar, das ihr ins Gesicht fiel, und sein glatt rasierter Kiefer.
»Vater! Bitte!«
Sein Atem stockte kurz, als er sein Gewicht verlagerte und sich mit einer Schulter gegen das Holz lehnte, und Wynter hörte das schreckliche Geräusch von Metall auf Metall, als Lorcan mit einer Hand den Riegel zurückschob.
»Vater!«, jammerte sie. » Vater! Bitte!« Eine Träne tropfte auf ihr emporgewandtes Gesicht, und dann eine zweite. Sie rannen über Lorcans glattes Kinn und fielen in ihre Augen, auf ihre Wangen. Wynter schluchzte, als Lorcan sie beide vom Holz abstieß, beinahe verlor er das Gleichgewicht, während er die letzten Reste seiner unglaublichen Kraft zusammennahm, um einen Schritt zurückzutreten und die Tür zu öffnen.
Lediglich einen Spalt zog er sie auf, musste aber sofort die freie Hand wieder auf dem Türstock abstützen. Da entließ er Wynter ohne Vorwarnung aus seinem eisernen Griff und schob sie durch die schmale Lücke in den Gang hinaus.
»Nein! Nein!« Verzweifelt klammerte sie sich an ihm fest. Lorcan jedoch war entschlossen. Immer fester drückte er gegen die Tür. Wynters Hände glitten von seiner Schulter auf die Ellbogen hinab. Er zog unerbittlich den Arm zurück, sie hielt seinen Unterarm fest, er zog weiter. Einen kurzen Moment lang umschlossen sich ihre Finger, und dann ließ Lorcan los und schloss die Tür.
Er schob den Riegel vor. Der Schlüssel drehte sich im Schloss.
Wynter presste sich an das Holz, Tränen strömten ihr über das Gesicht. Sie lauschte: Kein Geräusch kam von drinnen.
»Vater«, flüsterte sie. »Vater.«
»Bitte«, sagte er da leise, die Stimme gedämpft, als drückte er das Gesicht an die Tür.
Wynter schloss die Augen und schluchzte.
»Bitte«, hörte sie ihn erneut. »Geh …«
Wynter legte die Hände flach auf das Holz und lehnte ihre Stirn daran. Nass tropfte es von ihrem Gesicht auf die Steinfliesen. Sie nickte. »Lebe wohl, Vater«, flüsterte sie. »Ich liebe dich.«
Zunächst vernahm sie keinen Laut von der anderen Seite. Dann, als sie das Ohr an die Tür legte, hörte sie schwach, sehr schwach, ein langgezogenes, zögerndes Schaben, als hätte ihr Vater mit der Hand über das Holz gestrichen.
Bedächtig und unendlich langsam richtete sich Wynter auf, denn jede Bewegung kostete sie fast übermenschliche Willensanstrengung. Sie verharrte einen letzten Augenblick, eine Hand immer noch auf die Tür gelegt. Dann ließ sie den Kopf sinken, die Hände fallen und ging mit steifen Schritten davon.
Schattenpfade
W ynter betrachtete die dichte Menschenmenge vor dem Tor, an dem die Wachen jeden Passierschein sorgfältig prüften. Die Mittagssonne brannte unbarmherzig auf ihren Strohhut, der einen finsteren Schatten über ihr ausdrucksloses Gesicht warf. Das verräterische Haar war unter ihrer dunklen Haube versteckt, und die Hosenbeine hatte sie herausgezogen, um die kostbaren Reitstiefel zu verbergen. Sie war lediglich ein weiteres blasses Dienstmädchen in Reisekleidung, das geduldig in der Schlange wartete. Um genau zu sein, war sie Madge Butterfield, Küchenhilfe und Scheuermagd, dank Marni mit allen notwendigen Papieren ausgestattet und rechtmäßig von der Arbeit beurlaubt, um zu Hause ihre kranke Mutter zu pflegen.
Für einen Sommermittag herrschte ungewöhnliches Gedränge vor dem Tor. Staub wirbelte in erstickenden Wolken unter den schlurfenden Füßen auf, bedeckte die unruhigen Pferde und die Wagen und auch die Gesichter der meisten Wartenden. Es war Erneuerungstag, und die Menschen tröpfelten schon den gesamten Vormittag über aus dem Palast, um den zweitägigen Jahrmarkt in der Stadt zu besuchen. Wynter hegte den Verdacht, dass Razi absichtlich diese unerquickliche Zeit für seine Abreise gewählt hatte, um durch die große Menschenmenge besser geschützt zu sein. Sie wusste,
er würde in Begleitung weniger Männer reisen – wahrscheinlich verkleidet -, und sobald sie die Burg hinter sich gelassen hatten, würden sie einfach mit dem nie endenden Tumult auf der Port Road verschmelzen.
Eine kleine Gruppe muselmanischer Männer und Frauen schlenderte über
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