Moorehawke 01 - Schattenpfade
den Kiesweg, in eine angeregte Unterhaltung vertieft. Anfangs dachte Wynter verwirrt, sie wären gekommen, um Razi zu verabschieden. Denn ähnlich wie die meisten anderen Menschen in Jonathons Königreich wussten die Muselmanen nicht so recht, was sie mit Razi anfangen sollten: Wie alle anderen hofierten sie ihn ob seines Rangs und seiner Macht, doch im Grunde ihres Herzens missbilligten viele den Mann, den sie Der Prinz, der nicht beten will nannten.
Wynter beobachtete, wie die Gruppe ihren Platz am Ende der langen Schlange einnahm. Offenbar wollten sie ebenfalls den Palast verlassen. Eine Pilgerreise also, oder vielleicht eine Großfamilie auf dem Weg zu einer Hochzeit. Die Frauen plauderten fröhlich, die Männer lachten und scherzten, die Gesichter gegen den lästigen Staub verhüllt. Ein Nachzügler eilte über den Kies auf sie zu, die Kufiya straff um den Kopf gezogen. Er wurde gutmütig auf Arabisch für seine Verspätung geneckt und gesellte sich mit eingezogenem Haupt zu den anderen Männern. Ihre frohe, vertrauliche Kameradschaft erfüllte Wynters Brust mit finsterer Verzweiflung. Niedergeschlagen wandte sie sich ab, während sich die Schlange langsam vorwärtsbewegte.
Beim Klang von Pferdehufen verstummten alle. Wie auf Kommando traten die Wartenden zurück und drehten sich um. Sie beobachteten schweigend, wie der königliche Reisetross herantrabte und die Pferde unter dem Torbogen zügelte. Wynter drückte sich erschrocken in die Menge zurück und schielte unter ihrer Hutkrempe hervor.
Gebieterisch und unnahbar saß Razi im Herzen des kleinen Trupps gut bewaffneter Männer. Er trug die Beduinengewänder, die er immer schon bevorzugt hatte, Kopf und Gesicht wurden von einer hellblauen Kufiya gegen Sonne und Staub geschützt. Nur seine wunderschönen Augen waren zu sehen, sie blickten verschleiert und abweisend. Sein Pferd stampfte und schnaubte und schüttelte sein prächtiges Haupt, doch Razi selbst sah in die Ferne, als ginge ihn das alles nichts an. Einer seiner Männer sprang aus dem Sattel und reichte Dokumente in das Wachhäuschen. Er zog sich die Kufiya vom Gesicht, als der Soldat die Papiere prüfte, und Wynter erkannte Simon de Rochelle. Sie verspürte eine Mischung aus Beunruhigung und Erleichterung. Gottlob musste er nicht unter dem fragwürdigen Schutz von Jonathons hasserfüllter Leibgarde reisen – doch andererseits: de Rochelle? Er war so aalglatt und eigennützig wie eine Katze. Sorgenvoll betrachtete sie Razi aus dem Augenwinkel.
De Rochelle nahm die Papiere von der zufriedengestellten Wache entgegen und stieg wieder auf sein Pferd. Alle Soldaten salutierten stramm, doch Razi schenkte ihnen nicht mehr Beachtung als einem streunenden Hund, sondern trieb unverzüglich sein Pferd durch das offene Tor und in die sengende Sonne hinaus. Ohne Hast klapperte der Trupp über die Zugbrücke und trat den Weg den Hügel hinauf an. Ihre Pferde passten sich dem Trott des dünnen Menschenstroms an.
Nun war Wynter an der Reihe und händigte dem Soldaten ihre Dokumente aus, ohne die Reiter vor sich auf der Anhöhe aus den Augen zu lassen. Wortlos warf ihr der Wachposten die Papiere wieder zurück und wandte sich dem Nächsten in der Schlange zu.
Wynter passierte die Wachen und verfiel in Laufschritt, ohne weiteres Zaudern trat sie aus dem schützenden Schatten
des Torbogens. Sie blickte nicht zurück, doch etwas in ihr zerriss, als ihre Füße die schwankenden Balken der Zugbrücke hinter sich ließen, und ihr Herz blutete, während sie die staubige Straße zur Stadt einschlug.
Razi war noch immer in Sicht, als Wynter das Gasthaus erreichte. Sein Trupp hatte zwar schon eine gute Wegstrecke zurückgelegt, war aber noch erkennbar, da sie auf der überwiegend von Fußgängern und Karren benutzten Straße die Einzigen waren, die hoch zu Ross reisten. Sie riss die Augen von ihm los und sah sich nach Marnis Neffen um. Dort! Er war unverwechselbar: Marni mit Bart.
Sie fing seinen Blick auf, während er ein widerspenstiges Schwein in einen Koben zerrte, und ließ ihn über Marnis geheimes Handzeichen wissen, wer sie war. Beinahe unmerklich nickte er, verschwand in einem Stall und kehrte wenige Augenblicke später mit Ozkar zurück, der beim Anblick und Geruch seiner Herrin schnaubte und zufrieden schmatzte.
»Braver Junge«, raunte sie dem Pferd zu, klopfte ihm auf den Hals und rieb seine Schnauze. »Braver Junge.« Sie untersuchte ihn kurz, doch er war in guter Verfassung und ausgeruht, gewiss stand er
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