Moorehawke 02 - Geisterpfade
war. In den alten Zeiten – den Tagen vor Jonathons Regentschaft – hätte man den Gastwirt für sein Benehmen ausgepeitscht und seine Schenke niedergebrannt. Sie fragte sich, ob er das wohl vergessen hatte. Als sie nun Jonathons Wache dabei beobachtete, wie er der Versuchung widerstand, den aufsässigen Wirt zu züchtigen, flackerte etwas Hoffnung in ihr auf, dass sich die frühere, besonnene Regierungsweise des Königs vielleicht doch noch durchsetzen würde.
Knapp gab der Hauptmann ein paar Anweisungen, drehte sich – dem Anschein nach zufrieden – um und stapfte zurück zu seinen Männern. Die Offiziere saßen auf, die Männer folgten ihrem Beispiel, und innerhalb weniger Augenblicke hatte sich die Kavallerie formiert und ritt über den Pfad auf die Hauptstraße zu. Mit grimmiger Miene blickte der Wirt ihnen nach, ging dann zurück ins Gasthaus und knallte die Tür hinter sich zu.
»Er ist nicht gerade begeistert von den Männern meines Vaters, was?«, bemerkte Razi mit Blick auf die fest geschlossene Tür. »Wisst ihr, ich glaube fast, dieser Mann könnte ein Anhänger meines Bruders sein. Vielleicht ist das ein Rebellenschlupfwinkel …«
»Na großartig«, fiel ihm Christopher trocken ins Wort. »Da juckt es dich doch ganz bestimmt in den Fingern, mal kurz deine Aufwartung zu machen.«
Razis Mundwinkel hoben sich leicht, er behielt weiterhin das Gasthaus im Blick.
»Fraglos«, fuhr Christopher fort, »kannst du dich nur mit Mühe davon abhalten, wild winkend da runter zu marschieren und zu hoffen, dass irgendein Schurke dich erkennt, dir eins überzieht und dich ins Lager deines Bruders schleift. Unter Garantie …«
»Christopher«, lächelte Wynter. »Pst.«
»Ach, selber pst!«, sagte er.
»Nur weil sie auf Alberons Seite stehen, heißt das noch nicht, dass sie mich von irgendeinem anderen braunen Mann unterscheiden können, Christopher. Ich habe keinerlei Absicht, ›wild winkend da runter zu marschieren‹.«
»Sehr gut!«
»Was ich allerdings machen …«
»Na, das war ja klar, jetzt kommt’s!«
» Was ich allerdings gern machen würde, wäre, mich dort unten umzusehen, hinter wem die Kavallerie eigentlich her ist.«
Christopher warf die Hände hoch.
»Ich schlage vor, dass wir noch etwas abwarten, Bruder«, sagte Wynter. »Jetzt, wo die Kavallerie fort ist, sollten wir vielleicht mal sehen, was so aus dem Wald gekrochen kommt?«
Razis Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Abgesehen von uns, meinst du?«
»Genau.« Sie grinste. »Mal ganz abgesehen von uns.«
Da fuhr Christopher jäh zusammen und ging in die Hocke, Wynter mit sich ziehend. Er deutete auf die Bäume gegenüber und zischte: »Dort!«
Ein Mann trat vorsichtig aus dem Wald. Er war so groß wie Razi, aber von breiter Statur und schwerem Knochenbau. Von seinem langen, graubraunen Umhang perlte der Regen ab, und er hatte einen Langbogen und einen Köcher mit
Pfeilen über den Rücken geschlungen. Die Kapuze hatte er sich über Kopf und Gesicht gezogen, und nun stand er dicht am Waldrand und beobachtete den Pfad. Vorsichtig ließ er den Blick über die Bäume auf ihrer Seite der Lichtung schweifen, dann wandte er sich dem Fluss zu und spähte zur Fähre hinüber. Nach einer Weile neigte er den Kopf leicht nach hinten, und Wynter erkannte erschrocken, dass er jemandem zuhörte, der aus der Deckung des Waldes heraus mit ihm sprach.
»Er ist nicht allein«, raunte Razi.
Der Mann schüttelte den Kopf. Weitere lange Momente verstrichen, während er den Fluss beobachtete, dann verschwand er rückwärts zwischen den Bäumen.
Wynter, Razi und Christopher behielten die nächsten Minuten besorgt abwechselnd Fluss und Wald im Auge. Unablässig flüsterte der Regen durch die Baumkronen und seufzte über das Tal hinweg, doch neben ihrem eigenen leisen Atem waren es die einzigen Geräusche. Das Gasthaus blieb still, Türen und Fenster fest verschlossen. Schließlich stand Razi behutsam auf, wickelte sich in seinen Umhang und lehnte sich wieder an den Baum. Wynter setzte sich auf das durchweichte Moos eines umgestürzten Stamms, und Christopher kauerte sich erneut lautlos hinter ihr in die Schatten.
Als sie das Läuten der Fährhausglocke aus ihrer Benommenheit riss, war mehr als eine Stunde vergangen. Das Schnalzen einer Peitsche ertönte, gefolgt vom schweren Knarren der Seilscheiben, als jemand hinter dem Gasthaus die Mulis in ihrer Tretmühle in Bewegung setzte. Langsam strafften sich die Zugseile, mit deren Hilfe das
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