Moorehawke 02 - Geisterpfade
Floß von einer Seite des Flusses zur anderen geschleppt wurde.
Als die Fähre durch den Dunst in Sicht kam, hörte der Regen schlagartig auf, als wäre ein Schleusentor geschlossen worden, und das süße Zwitschern einer Amsel fiel durch die leuchtende Stille auf sie herab. Die tief stehende Abendsonne brach durch die Wolken, und Wynter musste vor Helligkeit die Augen zusammenkneifen.
Stück für Stück wurden Einzelheiten durch das schillernde Funkeln hindurch erkennbar. Die Fähre war voll, mindestens fünfzehn Menschen standen dicht an dicht mit ihren Pferden. Sie waren hochgewachsen und trugen Umhänge, deren Kapuzen sie tief in die Stirn gezogen hatten. Alle waren ruhig und wachsam und suchten mit bedächtiger Aufmerksamkeit das Ufer ab. Als sie näher kamen, wurde der Gesang der Flößer vernehmbar, und im Sonnenschein stieg Dampf von der Wasseroberfläche auf.
Plötzlich zuckte Christopher zusammen und stieß einen gedämpften Schrei aus, und Razi musste ihn am Hemd festhalten, damit er nicht ohne nachzudenken auf die Füße sprang. »Féach!« , wisperte er. » Na cúnna! « Offenbar war ihm überhaupt nicht bewusst, dass er Merronisch gesprochen hatte, doch Wynter begriff erst, dass sie gemeint war, als er sich grinsend zu ihr umdrehte. »Sieh dir die Hunde an!« Er streckte den Zeigefinger aus.
Sie beugte sich nach vorn und betrachtete eingehend das Floß. Nun, da sie die menschlichen Passagiere außer Acht ließ, entdeckte Wynter die Hunde, und ihr Herz vollführte einen Hopser, als sie die unverwechselbare Größe und Gestalt erkannte. Es waren riesige, furchterregende Geschöpfe, deren große, struppige Köpfe leicht an Wynters Schulter heranreichen würden. Alle sechs standen am Bug der Fähre und blickten sich mit stolzer Klugheit und Vornehmheit um.
»Gütiger«, hauchte Wynter. »Das können doch keine …«
»Doch«, murmelte Christopher. »Doch, sind sie!«
Verwundert schüttelte Razi den Kopf. »Solche Tiere habe ich noch niemals gesehen. Kennt ihr beiden solche Kreaturen etwa?«
Ohne den Blick vom Floß zu lösen, antwortete Christopher: »Das sind na Cúnna Faoil , Razi. Na Cúnna Cogaidh . Es ist unfassbar.« Er lachte in sich hinein. »Unfassbar«, wiederholte er und verfiel in entrücktes Schweigen.
»Das sind die Wolfshunde, Razi«, erklärte Wynter. »Die Kriegshunde. Diese Rasse ist ausschließlich Eigentum der Merroner. Keinem anderen Volk ist es gestattet, sie zu besitzen.«
»Dann sind diese Leute Merroner ?«
Wieder lachte Christopher und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Bei Frith«, sagte er fröhlich.
Besorgt runzelte Razi die Stirn und lenkte bang den Blick auf den Fluss. Die Fähre hatte am Steg angelegt, die Merroner kamen an Land. »Was machen Merroner in meines Vaters Reich?«, fragte er.
Wynter schielte zu Christopher, sie rechnete damit, dass Razis argwöhnischer Tonfall ihn aufbringen würde, doch ihr Freund schüttelte nur mit weit aufgerissenen Augen den Kopf. »Ich habe keine Ahnung. Noch nie habe ich gehört, dass meine Leute so weit nach Süden gekommen sind.«
»Könnten sie sich vielleicht mit Alberon verbündet haben?«
Christopher zog eine Grimasse und breitete entschuldigend die Hände aus. »Ich fürchte, mein Vater war so gar kein politischer Mann, Razi, obwohl er zum filid geboren und erzogen wurde. Mich hielt er aus diesen Angelegenheiten vollkommen heraus, und ich verstehe weder etwas von Politik noch habe ich eine Neigung dazu. Ich kann dir in diesem
Fall überhaupt nicht weiterhelfen. Kannst du es?«, fragte er Wynter.
Sie zuckte mit den Achseln. »In Shirkens Reich sind wir Bären- und Panthermerronern begegnet. Sie hatten schwer unter Shirkens Unterdrückung der alten Religionen zu leiden, und Vater bemühte sich, ihnen mehr Freiheit in der Ausübung ihrer Riten und die Erhaltung ihrer Wegerechte zu verschaffen. Aber ich kann nicht behaupten, dass ich die Merroner verstehe, Razi. Ich kann nichts darüber sagen, was sie hier vorhaben könnten.«
»Welchen Stämmen gehören die hier an, Christopher?« Razi deutete auf das Gasthaus und sah seinen Freund fragend an.
»Wie soll ich das aus dieser Entfernung erkennen? Denk doch mal mit, Mann!«
»Seht.« Wynter zeigte auf die Bäume am gegenüberliegenden Lichtungsrand, und alle drei duckten sie sich tiefer, während eine lange Reihe Männer und Frauen allmählich aus dem Wald herabstieg. Insgesamt waren es neun, ihre Pferde liefen neben ihnen her. Als sie in Sichtweite der
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