Moorehawke 02 - Geisterpfade
sie ihre ungeteilte Aufmerksamkeit Razi. »Tabiyb«, sagte sie mit tiefer, voller Stimme. »Endlich kennen wir des anderen Namen.«
Sie beugte sich über den Tisch, ihr helles Haar schwang nach vorn wie ein Schleier aus Flachs, und Razi schüttelte wortlos und mit großen Augen ihre Hand. Wynter zwinkerte
Christopher neben sich fröhlich zu, doch anstatt ebenfalls erheitert zu sein, blieb er unverständlicherweise weiterhin Sólmundr zugewandt.
Embla hielt Razis kraftvolle, dunkle Hand fest mit ihren eigenen zarten umschlossen und legte den Kopf schief. Ganz langsam verzog sich Razis Mund zu einem Lächeln. Er sah ihr fest in die Augen und strich mit dem Daumen über das weiche, weiße Handgelenk. Zwischen ihnen schien die Zeit stillzustehen.
Als nach einer geraumen Weile offensichtlich wurde, dass weder Razi noch Embla geneigt waren, einander loszulassen, stieß Ashkr ein Schnauben aus und piekte seine Schwester in die Seite. Unergründlich lächelnd entzog Embla Razi ihren Arm, und Razi rieb sich verträumt die Handfläche, als spürte er noch die Erinnerung an ihre Berührung. Anmutig ließ sich die edle Dame wieder auf ihrem Stuhl nieder.
Nun räusperte sich Sólmundr und hob den Arm, um in aller Form den schwarzhaarigen Mann vorzustellen. »Verehrte Menschen«, sagte er, »gestattet mir zu erweisen Euch die Ehre, zu nennen unseren Aoire – unseren Hirten – Úlfnaor, Aoire an Domhain .«
Anders als alle anderen bot Úlfnaor niemandem die Hand zum Gruße an, doch keiner schien daran Anstoß zu nehmen. Vielmehr verneigte sich Christopher sehr feierlich zu einer untadeligen, tiefen und lang andauernden Verbeugung, bei der sein zerzaustes Haar nach vorn schwang und sein Gesicht verbarg. Razi und Wynter beeilten sich, es ihm nachzutun.
»Wir sind geehrt«, sagten sie.
»Die Ehre ist ganz auf meiner Seite«, brummte Úlfnaor, und damit verfielen die Merroner in eine so jähe und unerwartete Ungezwungenheit, dass Wynter ganz schwindlig wurde.
»Setzt euch! Setzt euch!«, drängte Sólmundr. Er zeigte auf die Schemel, die seitlich des Tischs standen, dann gab er Razi einen Schubs und drückte Christopher nach unten. Embla bot eine Schale Oliven an, um ihren Appetit anzuregen, und Ashkr trug dem Wirt auf, noch mehr Seidel und einen Krug Wein zu bringen. Úlfnaor beugte sich zurück und raunte Wari etwas zu, der umgehend loszog und mit den Mahlzeiten zurückkehrte, die Wynter und Razi bestellt hatten.
Immer noch ganz benommen von der plötzlich gewandelten Stimmung nahm Wynter Platz, und die Merroner lachten über die Verwirrung ihrer Gäste. Nachdem sich Sólmundr vergewissert hatte, dass jeder bequem saß, ging auch er zu seinem Stuhl, doch gerade, als er sich setzen und an Ashkr gewandt eine lustige Bemerkung machen wollte, sah Wynter ihn erbleichen und noch halb im Stehen erstarren. Mit einem dumpfen Ausruf krümmte er sich, umklammerte die Tischkante und biss vor Schmerz die Zähne zusammen.
Sofort legte Ashkr seinem Freund die Hand auf den Arm und beugte sich vor, um ihm ins Gesicht sehen zu können. »Sól!«, sagte er besorgt. » An bhfuil drochghoile ort aris? «
Sólmundr senkte den Kopf und nickte, seine Fingerknöchel wurden weiß vor Anstrengung.
Razi erhob sich halb von seinem Schemel. »Was ist denn?«, fragte er.
»Sól hat …« Rasch wirbelte Ashkr zu Embla herum und fragte sie etwas auf Merronisch.
Sie machte eine Kreisbewegung mit der Hand auf dem Unterleib. »In seinem Bauch«, sagte sie. »Ihm geht es schlecht. Erst seit drei Tagen.« Sie stand auf und sah sich in der Menge um. »Ich hole Hallvor.«
»Mein Freund ist Arzt!«, rief Christopher. »Er kann ihm helfen.«
»Wir haben unsere eigene Heilerin«, fauchte Úlfnaor.
»Und ganz gewiss eine wunderbare! Aber mein Freund ist ein Medicus! Von der blauen Robe!« Zur Bekräftigung hielt er die Hände hoch und zeigte als Beweis für Razis Fähigkeiten die lange, saubere Narbe.
Mit geweiteten Augen krümmte sich Sólmundr noch stärker.
»Holt Hallvor!«, rief Ashkr und rieb seinem Freund über den Rücken.
Wari und Úlfnaor begannen, die Menge abzusuchen, doch ganz unvermittelt ließ Sólmundrs Krampf nach, und er richtete sich wieder auf. Einen Moment lang wartete er noch ab, die Hand auf den Unterleib gedrückt, dann grinste er. »Ist wieder weg.« Unvermittelt errötete er.
Immer noch betrachtete Ashkr ihn mit kummervoller Miene, die Hand auf seinen Arm gelegt, doch Sólmundr wehrte ab: »Es ist gut, Ash.« Fröhlich sah er
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