Moorehawke 02 - Geisterpfade
begriff sie plötzlich. Sie überlegen umzusiedeln , dachte sie. Sie möchten ihr Volk nach Süden bringen! Ihr wurde schwer ums Herz. Es war höchst unwahrscheinlich, dass sich die stark strukturierte Gesellschaft des Königreichs für einen großen Nomadenstamm eignen würde. Man hat euch, glaube ich, irregeführt, was eure Duldung in diesem Reich betrifft. Jemand hat euch Versprechungen gemacht, die er wohl kaum einhalten wird.
Wynter schielte zu Christopher. Er starrte finster in die ausgelassene Menge, die Lippen zu einem Strich verzogen; doch seine Missstimmung verflüchtigte sich rasch. Als er den Merronern beim Tanz zusah, wölbten sich seine Lippen wehmütig nach oben. Die Musik war zu einem wilden Rausch angeschwollen, und die Tänzer teilten sich in Vierergruppen auf, wanden sich in- und umeinander, bildeten verschlungene Knoten und Muster und lösten sie wieder auf. Mit einem Mal sprang jemand aus der Mitte der Gruppe hoch wie ein Fisch aus dem Wasser, und als er mit der Hand
auf einen der verräucherten Balken der hohen Decke schlug, schnappte Wynter nach Luft. Die Menge jubelte. Christopher und Wari stießen ein lautes Geheul aus und klatschten als Ausdruck ihrer Anerkennung einmal in die Hände.
Embla streckte den Arm über den Tisch und zupfte an Razis Ärmel. »Tanzt Ihr, Tabiyb?«
Bei dem Gedanken prustete Wynter laut, doch Razis Mundwinkel zuckten, und er machte ein selbstzufriedenes Gesicht. »O ja«, antwortete er. »Ich tanze!« Damit sprang er auf die Füße und bot Embla mit überschwänglicher Geste die Hand. »Coinín hat es mir beigebracht!«, rief er.
Bass erstaunt sah Wynter zu, wie ihr Pirat seine blasse Dame über den Tanzboden wirbelte.
»Christopher Garron!« Sie gab dem still vor sich hin grinsenden Mann einen Klaps auf die Schulter. »Was hast du mit meinem Bruder angestellt?«
»Das ist ein rajputisches Katar«, erklärte Christopher Ashkr, der seinen ungewöhnlichen Dolch untersuchte und die Ätzungen im Stahl bewunderte. »Tabiyb hat ihn für mich zusammen mit der Muskete gekauft. Er dachte, es wäre für mich leichter zu benutzen wegen …« Christopher hielt seine geschundene Hand hoch und wackelte steif mit den Fingern. »Er meinte, ich könnte es viel besser festhalten.«
»Und, ist das so?«, fragte nun Sólmundr und reichte die Klinge an Wynter weiter, die mit einer Geste darum gebeten hatte. Sie steckte die Hand in die Metallspange und schloss die Finger um den waagerecht angeordneten Griff unter der Schutzschale. Das Katar fühlte sich sehr stabil an, als hätte sie ihre Faust durch ein Messer ersetzt, doch gleichzeitig mangelte es dem Handgelenk an Beweglichkeit.
Als könnte er ihre Gedanken lesen, sagte Christopher: »Dennoch ziehe ich meinen gewöhnlichen Dolch vor. Mehr Freiheit.« Er vollführte einige flinke, tödliche Bewegungen mit dem Arm, als stieße er mit einer Klinge zu, und Wynter bemerkte, dass die Merroner ihn aufmerksam beäugten. Verstohlen musste sie lächeln. Sie selbst wollte Christopher nicht gern in einem offenen Zweikampf gegenüberstehen – trotz der verstümmelten Hände wäre er ein tückischer Gegner und sehr schnell dazu. Zufrieden stellte sie fest, dass den großen Männern um sie herum die gleiche Erkenntnis dämmerte.
Wynter gab gerade das Katar an Úlfnaor weiter, als Razi und Embla von der Tanzfläche zurückkehrten. Razi zog einen Schemel an das Kopfende des Tischs, und Embla zupfte Sólmundr am Haar und bedeutete ihm, Platz zu machen. Sólmundr und Ashkr rutschten auf, damit sich Embla neben Razi setzen konnte. Dabei kicherten die Männer wie üblich anzüglich und neckend, und Embla macht ein tadelndes Geräusch, musste aber verstohlen grinsen.
Unterdessen reichte Christopher den Malchus an Ashkr. Der blonde Mann drehte das Schwert hin und her und strich mit der Hand über die Klinge, die dunkelblauen Augen voller Staunen.
»Das ist indischer Stahl«, erklärte Razi. »Genau wie die Muskete und das Katar.« Er nahm einen Schluck Fruchtsirup. Sein Haar war so feucht, als wäre er schwimmen gewesen. »Als ich ihn gekauft habe«, berichtete er atemlos und reichte den Becher an Embla weiter, »hat der Schmied, um ihn mir vorzuführen, damit einen Schweinefuß durchschnitten. Die Klinge ging in einem Hieb durch den Knochen. Sie bleibt schärfer als alle anderen, die ich je gesehen habe.«
»Das sind fabelhafte Waffen«, sagte Wynter.
»Ja«, seufzte Razi, während Úlfnaor den Malchus in der Hand wog. »Ja, schon.
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