MoR 01 - Die Macht und die Liebe
Orange. Aurelia webte die Stoffe für ihre Kleidung selbst, und sie liebte leuchtende Farben. Auf dem Webstuhl lag ein großes, beinahe vollendetes Stück eines hauchdünnen, flammenfarbenen Stoffes aus besonders feiner Wolle - Aurelias Brautschleier, eine wirkliche Herausforderung. Der safranfarbene Stoff für ihr Hochzeitskleid war bereits fertig und lag sorgsam gefaltet in einem Regal. Erst wenn der Heiratskontrakt unterzeichnet war, würde er zugeschnitten und genäht werden, vorher brachte es Unglück.
Cardixa, die eine echte Begabung für kunstvolle Schnitzereien hatte, arbeitete an einem Wandschirm aus kostbarem africanischen Edelholz. Die polierten Steine - Sarder, Jaspis, Karneol und Onyx -, mit denen sie die geschnitzten Blätter und Blüten einlegen wollte, wurden sorgsam eingewickelt in einer geschnitzten Holzschatulle verwahrt, die sie ebenfalls selbst gearbeitet hatte.
Aurelia schloß die Fensterläden an der offenen Seite ihres Zimmers und ließ nur die Gitter geöffnet, damit frische Luft und gedämpftes Licht eindringen konnten. Wenn die Läden geschlossen waren, bedeutete dies, daß sie von niemandem gestört werden wollte, weder von Dienern noch von ihren Brüdern. Dann setzte sie sich an den Schreibtisch, verwirrt und ratlos.
Was würde Cornelia, die Mutter der Gracchen, an ihrer Stelle tun?
Diese Frage stellte sich Aurelia bei jeder Entscheidung. Was würde Cornelia, die Mutter der Gracchen tun? Was würde Cornelia, die Mutter der Gracchen, denken? Wie würde Cornelia, die Mutter der Gracchen, empfinden? Cornelia, die Mutter der Gracchen, war Aurelias Idol, ihr Vorbild in allem, was sie sagte oder tat.
Unter den Bücherrollen, die in den Fächern ihres Wohn- und Arbeitszimmers lagen, befanden sich sämtliche Briefe und sonstigen Schriften von Cornelia, der Mutter der Gracchen, und überdies alle Werke, in denen dieser Name erwähnt wurde.
Wer war diese Cornelia, die Mutter der Gracchen? Nun, sie war der Inbegriff einer edlen Römerin gewesen, von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod.
Cornelia, eine Tochter von Scipio Africanus, der Hannibal besiegt und den Karthagern Spanien entrissen hatte, war mit neunzehn Jahren mit dem fünfundvierzigjährigen Tiberius Sempronius Gracchus verheiratet worden, einem Römer aus edelster Familie. Ihre Mutter Aemilia Paulla war eine Schwester des Aemilius Paullus, und deshalb waren ihre Kinder von beiden Seiten Patrizier aus dem Haus der Gracchen.
Cornelia wurde Tiberius Sempronius Gracchus eine vorbildliche Ehefrau, und während der beinahe zwanzig Jahre ihrer Ehe gebar sie ihm zwölf Kinder. Gaius Julius Caesar würde vermutlich sagen, die Kränklichkeit ihrer Kinder - denn kränklich waren sie alle, und nur drei überlebten das Kindesalter - sei auf die häufigen Ehen zweier blutsverwandter Familien zurückzuführen. Sie gab jedoch nicht auf, sondern kümmerte sich mit großer Liebe und Umsicht um alle ihre Kinder, und es gelang ihr, drei davon großzuziehen die Tochter Sempronia und die beiden Söhne Tiberius und Gaius.
Mit großer Sorgfalt erzogen, eine echte Tochter ihres Vaters, der die griechische Kultur über alles geschätzt hatte, unterrichtete sie ihre Kinder im geeigneten Alter selbst und überwachte sorgfältig die anderen Bereiche ihrer Erziehung. Als ihr Gatte starb, blieb sie mit der fünfzehnjährigen Sempronia, dem zwölfjährigen Tiberius, dem zweijährigen Gaius und den anderen Kindern, die bis dahin überlebt hatten, zurück.
Viele bewarben sich um die Hand der Witwe, denn sie hatte ihre Fruchtbarkeit mit erstaunlicher Regelmäßigkeit unter Beweis gestellt und war immer noch im gebärfähigen Alter. Zudem war sie die Tochter von Scipio Africanus, die Nichte von Aemilius Paullus und Witwe des Tiberius Sempronius Gracchus. Und sie war reich, unvorstellbar reich.
Unter ihren Freiern war auch König Ptolemaios Euergetes der Fette, ehemaliger König von Ägypten und regierender König der Cyrenaica. In den Jahren zwischen seiner Entthronung und seiner Wiedereinsetzung als König von Ägypten, neun Jahre nach Tiberius Sempronius Gracchus’ Tod, war er ein häufiger Besucher in Rom. Er blökte dem Senat, der seiner gründlich überdrüssig war, die Ohren voll, hetzte und bestach, weil er unbedingt wieder auf den ägyptischen Thron zurückkehren wollte.
Als Tiberius Sempronius Gracchus starb, war Cornelia sechsunddreißig, Ptolemaios war acht Jahre jünger als sie und um die Leibesmitte noch deutlich schlanker. Er bemühte sich gleichermaßen
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