MoR 01 - Die Macht und die Liebe
belustigten Blick zu. »Sag es ihr, Marcus Aurelius!«
Cotta räusperte sich noch einmal. »Nun, Aurelia, du bereitest uns ein wenig Kopfzerbrechen. Bei der letzten Zählung waren es siebenunddreißig Bewerber auf der Liste. Keiner dieser hoffnungsvollen Freier kann als ungeeignet angesehen werden. Einige von ihnen stehen im Rang über uns, einige sind reicher als wir, ein paar sind sogar vornehmer und reicher! Das bringt uns in eine mißliche Lage. Wenn wir dir einen Gatten aussuchen, werden wir uns viele Feinde machen, weil wir viele abweisen müssen. Das ist für uns nicht weiter schlimm, aber wir müssen an die Zukunft deiner Brüder denken. Das verstehst du sicher.«
»Natürlich, Vater«, sagte Aurelia ernsthaft.
»Nun, dein Onkel Publius hat uns den einzig vernünftigen Weg aus diesem Dilemma gezeigt - du wirst deinen Gatten selbst auswählen, meine Tochter.«
Aurelia schaute ihn entgeistert an. »Ich?«
»Du.«
Sie preßte ihre Hände an die geröteten Wangen. »Aber das geht nicht!« rief sie. »Das ist - das ist nicht römisch!«
»Ich stimme dir zu«, sagte Cotta. »Es ist ganz und gar nicht römisch. Es ist rutilisch.«
»Oh!« Aurelia rang die Hände. »Nein!«
»Was ist denn, Aurelia? Warum glaubst du, daß du die Entscheidung nicht treffen kannst?« fragte Rutilia.
»Nein, das ist es nicht«, antwortete Aurelia und wurde abwechselnd rot und blaß. »Es ist nur... nun...« Sie erhob sich. »Kann ich gehen?«
»Natürlich.«
An der Tür wandte sie sich um und sah Rutilia und Cotta ernsthaft an. »Wie lange habe ich Zeit, um meine Entscheidung zu treffen?
»Oh, das hat keine Eile«, meinte Cotta leichthin. »Du wirst zwar Ende Januar achtzehn, aber du mußt nicht sofort heiraten, nur weil du das entsprechende Alter erreicht hast. Laß dir Zeit.«
»Ich danke euch«, sagte sie und ging hinaus.
Sie schlief in einem kleinen, fensterlosen Raum, der sich zum Atrium hin öffnete, in einer so fürsorglichen Familie hätte man der einzigen Tochter nie erlaubt, an einem weniger behüteten Ort zu schlafen. Doch ihre Stellung als einziges Mädchen unter so vielen Brüdern brachte auch Vorteile - sie wurde umhegt und verwöhnt und hätte sich mit Leichtigkeit zu einer verzogenen jungen Dame entwickeln können, wäre die Anlage dazu vorhanden gewesen. In ihrer Familie herrschte jedoch übereinstimmend die Meinung, daß es unmöglich war, Aurelia zu verziehen, denn es gab keinen Funken Habgier oder Neid in ihrem Charakter. Das bedeutete allerdings nicht, daß sie besonders liebenswürdig oder umgänglich war, im Gegenteil, es war viel einfacher, sie zu schätzen und zu respektieren, als sie zu lieben. Als Kind hatte sie den Angebereien ihrer Brüder so lange unbewegt zugehört, bis sie genug hatte. Dann hatte sie dem Aufschneider eine Ohrfeige versetzt, die ihm die Ohren klingen ließ, und war wortlos davongegangen.
Aurelia, das einzige Mädchen, brauchte nach Meinung ihrer Eltern ein eigenes kleines Reich, wo sie sich vor ihren Brüdern zurückziehen konnte, wenn sie den Wunsch dazu verspürte. Und so hatte sie einen eigenen, recht großen und vor allem sonnigen Wohnraum bekommen, der am Peristyl, dem Säulengarten, lag. Und Aurelia besaß eine eigene Dienerin, die Gallierin Cardixa, eine echte Perle. Wenn Aurelia heiratete, sollte Cardixa mit ihr in das Haus ihres Gatten gehen.
Ein kurzer Blick auf Aurelias Gesicht sagte Cardixa, daß etwas Ungewöhnliches vorgefallen war, doch sie sagte nichts und erwartete auch nicht, daß Aurelia ihr erzählte, was sie bewegte - so harmonisch und freundschaftlich das Verhältnis zwischen Herrin und Dienerin auch war, es gab doch keine kindlichen Vertraulichkeiten. Aurelia wollte offensichtlich allein sein, und so verließ Cardixa den Raum.
An der Einrichtung des Zimmers war deutlich abzulesen, was die Bewohnerin interessierte. In die Wände waren unzählige Fächer für Schriftrollen eingearbeitet, auf dem Schreibtisch lagen leere Blätter, rote Stifte, Wachstafeln und ein kunstvoll gearbeiteter beinerner Stift, mit dem die Wachstafeln beschrieben wurden, und ein Abakus. Gepreßte Sepiastücke lagen neben einem abgedeckten Tintenfaß bereit, und ein wohlgefüllter Sandstreuer stand daneben.
In einer Ecke des Zimmers hatte Aurelia einen Webstuhl aus Patavium aufgestellt, an den Wänden dahinter waren Pflöcke angebracht, die Dutzende langer Wollstränge in allen Farben trugen, Rot- und Violettöne, verschiedene Schattierungen von Blau, Grün, Rosa, Gelb und
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