MoR 01 - Die Macht und die Liebe
beharrlich um ihre Hand und um seine Wiedereinsetzung als König von Ägypten, doch beides blieb erfolglos. Cornelia, die Mutter der Gracchen, wollte keinen seltsamen ausländischen König heiraten, und mochte er noch so reich und mächtig sein.
Tatsächlich hatte Cornelia beschlossen, überhaupt nicht mehr zu heiraten. Eine edle Römerin, die mit einem ebenso edlen Römer verheiratet gewesen war, hatte keinen Grund, noch einmal in den Stand der Ehe zu treten. So wurde Freier nach Freier mit erlesener Höflichkeit abgewiesen, und die Witwe kümmerte sich ausschließlich um die Erziehung ihrer Kinder.
Und sie erlebte schwere Schicksalsschläge. Ihr Lebensmut wurde weder durch die Ermordung ihres Sohnes Tiberius während seiner Amtszeit als Volkstribun gebrochen noch durch die Gerüchte über eine Beteiligung ihres Vetters und Schwiegersohnes Scipio Aemilianus an diesem Mord. Auch die entsetzlichen Vorkommnisse in der Ehe ihrer Tochter Sempronia mit Scipio Aemilianus und dessen mysteriöser Tod, bei dem man munkelte, daß er ermordet worden sei - von seiner Frau, Cornelias Tochter -, konnte ihren Lebenswillen nicht erschüttern. Sie umsorgte ihren geliebten Sohn Gaius Gracchus und unterstützte ihn auf seinem politischen Weg.
Als dann auch Gaius Gracchus eines entsetzlichen Todes starb, dachte jedermann, daß sich die inzwischen siebzigjährige Cornelia, die Mutter der Gracchen, von diesem Schlag nicht mehr erholen würde. Doch sie fuhr fort, das Leben in ihrer gewohnten Art mit erhobenem Haupt zu meistern - verwitwet, ihrer vielversprechenden Söhne beraubt, das einzige überlebende Kind die verbitterte, unfruchtbare Sempronia.
»Ich muß meine liebe kleine Sempronia großziehen«, sagte sie und meinte die kleine Tochter von Gaius Gracchus.
Cornelia zog sich aus Rom zurück, doch nie vom Leben, und sie verfolgte weiterhin alle Geschehnisse. In ihrer weitläufigen Villa in Misenum, in der sie von nun an lebte, war alles vereint, was Rom an Geschmack, Kultur und Pracht zu bieten hatte. Hier begann sie auf Bitten ihrer Freunde, ihre Briefe und Schriften zusammenzufassen, und sie erlaubte dem betagten Sosius von Argiletum, diese zu veröffentlichen. Wie ihre Verfasserin waren sie lebhaft, voller Anmut, Charme und Witz, und doch vermittelten sie Stärke und Tiefe. In Misenum fügte sie dieser Sammlung noch viel Neues hinzu, denn trotz ihres Alters verlor sie weder ihre Aufgeschlossenheit noch ihre geistige Regsamkeit.
Als Aurelia sechzehn war und Cornelia, die Mutter der Gracchen, dreiundachtzig, statteten Marcus Cotta und Rutilia, die sich mit ihrer stattlichen Kinderschar auf der Durchreise befanden, Cornelia einen Besuch ab - kein langweiliger Pflichtbesuch, sondern ein aufregendes Ereignis. Bevor sie Cornelia, die Mutter der Gracchen, aufsuchten, wurde die gesamte Nachkommenschaft - auch Lucius Aurelius, der sich mit seinen sechsundzwanzig Jahren ein wenig überlegen fühlte - unter Androhung aller erdenklichen Strafen ermahnt, keinen Lärm zu machen, still zu sitzen und aufs Wort zu gehorchen.
Marcus Cotta und Rutilia hätten sich die Ermahnungen, die eigentlich nicht in ihrer Art lagen, sparen können. Cornelia, die Mutter der Gracchen, wußte so ziemlich alles, was es über kleine und große Jungen zu wissen gab, und ihre Enkeltocher Sempronia war ein Jahr jünger als Aurelia. Cornelia war entzückt von den lebhaften und intelligenten Kindern und genoß den wunderbaren, langen Nachmittag sichtlich - einen zu langen Nachmittag, wie ihre besorgte Dienerschaft befürchtete, denn sie war schon recht gebrechlich und hatte ständig blaue Lippen und Ohrläppchen.
Dieser Nachmittag beeindruckte Aurelia tief. Sie schwor sich, ihr zukünftiges Leben nach den gleichen hohen Maßstäben von Stärke, Ausdauer, Würde und Geduld auszurichten. Sie begann, ihre Bibliothek mit sämtlichen Schriften der alten Dame zu füllen, und damit wurde der Grundstein für ein Leben gelegt, das ebenso bemerkenswert verlaufen sollte wie das von Cornelia, der Mutter der Gracchen.
Jener Besuch konnte nicht wiederholt werden, denn im darauffolgenden Winter starb Cornelia, die Mutter der Gracchen. Sie saß aufrecht auf einem Stuhl und hielt die Hand ihrer Enkelin, die sie gerade von ihrer offiziellen Verlobung mit Marcus Fulvius Flacchus Banibalio in Kenntnis gesetzt hatte. Er war der einzige Überlebende der Familie Fulvius Flacchus, alle anderen Mitglieder der Familie waren tot, weil sie Gaius Gracchus unterstützt hatten. Für Cornelia
Weitere Kostenlose Bücher