Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
MoR 01 - Die Macht und die Liebe

MoR 01 - Die Macht und die Liebe

Titel: MoR 01 - Die Macht und die Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colleen McCullough
Vom Netzwerk:
kein Hindernis für ihn, wenn er hörte, daß sie hier gefangengehalten wurde!
    Aber in dieser Nacht war es anders. Diese Nacht war der wahre Beginn einer Gefangenschaft, die kein glückliches Ende haben würde. Wer wußte denn schon, daß sie gefangen war, außer ihrem Bruder und seinen Sklaven? Und welcher Sklave würde es wagen, sich den Befehlen ihres Bruders zu widersetzen? Wessen Mitleid könnte die Furcht vor Marcus Livius überwiegen? Ihr Bruder war kein grausamer Mensch, aber er war strikten Gehorsam gewohnt. Sie war ihm genauso unterworfen wie die Sklaven und die Hunde, die er in seiner Jagdhütte in Umbrien hielt. Sein Wort war ihr Gesetz, seine Wünsche ihr Befehl. Was sie selbst wollte, war bedeutungslos und existierte nicht außerhalb ihrer Gedanken.
    Sie fühlte ein Brennen in ihrem linken Auge und dann eine heiße Spur auf der linken Wange. Etwas tropfte auf ihren Handrücken. Das rechte Auge begann zu brennen, und eine Träne lief die andere Wange herunter. Die Tränen fielen häufiger, wie bei einem kurzen Sommerregen, der mit einzelnen Tropfen beginnt und dann immer stärker wird. Livia Drusa weinte, denn ihr Herz brach. Sie wiegte sich vor und zurück, wischte sich die nassen Augen, putzte sich die Nase und weinte wieder. Sie weinte viele Stunden lang, allein mit ihrem Schmerz, gefangen durch den Wunsch ihres Bruders und ihre Weigerung, ihm zu gehorchen.
    Doch als der Verwalter am nächsten Morgen die Tür entriegelte, saß sie gefaßt und ruhig auf der Bettkante. Sie ging vor ihm aus dem Raum und durchquerte das prächtige Atrium auf dem Weg zum Arbeitszimmer ihres Bruders.
    »Nun?« fragte Drusus.
    »Ich werde Quintus Servilius heiraten«, sagte sie.
    »Gut, aber ich werde noch mehr von dir verlangen, Livia Drusa.
    »Ich werde mich bemühen, dir in allem zu gefallen, Marcus Livius«, erwiderte sie ruhig.
    »Gut.« Er schnalzte mit den Fingern, der Verwalter erschien sofort. »Schicke heißen, gesüßten Wein in das Wohnzimmer von Livia Drusa. Und sage ihrer Dienerin, sie soll ein Bad vorbereiten.«
    »Ich danke dir.« Sie war sehr blaß.
    »Es ist mir ein aufrichtiges Vergnügen, dich glücklich zu machen, Livia Drusa - solange du dich wie eine wohlerzogene Römerin verhältst und tust, was man von dir verlangt. Ich erwarte, daß du dich Quintus Servilius gegenüber so benimmst wie jede junge Frau, die sich über ihre Verlobung freut. Du wirst ihm diese Freude zeigen, und du wirst ihm mit unerschütterlicher Achtung, mit Respekt, Interesse und Anteilnahme begegnen. Niemals - auch nicht in der Zurückgezogenheit eures Schlafgemachs - wirst du ihm auch nur den leisesten Hinweis geben, daß er nicht der Gatte deiner Wahl ist. Hast du verstanden?« fragte er streng.
    »Ich habe verstanden, Marcus Livius«, sagte sie.
    »Komm mit.«
    Er nahm sie mit in das Atrium. An einer Wand war ein kleiner Schrein für die Hausgötter, die Laren und Penaten, angebracht. Auf beiden Seiten standen kleine Tempel mit den imagines der berühmten Vorfahren von Livius Drusus. Und hier ließ Drusus seine Schwester einen furchtbaren Eid bei den schrecklichen römischen Göttern schwören. Diese Götter hatten keine Statuen, keine Mythen, keine menschlichen Züge, weder männliche noch weibliche, sie waren Verkörperungen geistiger Eigenschaften. Bei diesen Göttern schwor Livia Drusa, daß sie dem jungen Quintus Servilius Caepio eine warmherzige, liebende Gattin sein würde.
    Nachdem sie geschworen hatte, entließ er sie in ihr Wohnzimmer, wo der heiße, mit Honig gesüßte Wein und Honigkuchen für sie bereitstanden. Sie trank ein paar Schlucke und spürte sofort die wohltuende Wirkung. Doch essen konnte sie nicht, ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie schob die Honigkuchen zur Seite, lächelte ihre Sklavin an und erhob sich.
    »Ich möchte mein Bad«, sagte sie.
    An diesem Nachmittag kamen Quintus Servilius Caepio und seine Schwester Servilia Caepionis zum Essen. Sie saßen mit Marcus Livius Drusus und Livia Drusa zusammen und sprachen über die geplanten Hochzeiten. Livia Drusa gehorchte ihrem Eid, doch sie dankte allen Göttern, daß man in ihrer Familie nur selten lächelte. Niemand fand es seltsam, sie so ernst zu sehen, alle waren ernst. Mit leiser Stimme und interessiert unterhielt sie sich mit Caepio, während ihr Bruder mit Servilia Caepionis sprach, und ganz allmählich schwanden Caepios Befürchtungen. Wie hatte er jemals zweifeln können, daß Livia Drusa ihn mochte? Sie wirkte etwas matt von ihrer Krankheit,

Weitere Kostenlose Bücher