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MoR 01 - Die Macht und die Liebe

MoR 01 - Die Macht und die Liebe

Titel: MoR 01 - Die Macht und die Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colleen McCullough
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gebracht hat. Ihr hast du es zu verdanken, daß eine besondere Verantwortung auf dir lastet. Nichts, was du sagst oder tust, darf den Gedanken erlauben, ihr Makel könnte auch an dir zu finden sein.«
    Livia Drusa holte tief Atem und wiederholte, stärker zitternd: »Will nicht!«
    »Was du willst, spielt keine Rolle«, entgegnete Drusus streng. »Wer bist du denn, Livia Drusa, daß du glaubst, deine Wünsche seien wichtiger als die Ehre oder die Stellung der Familie? Du hast die Entscheidung zwischen Quintus Servilius oder gar keiner Heirat. Wenn du hartnäckig bleibst, wirst du niemals heiraten. Du wirst dein Schlafzimmer nicht mehr verlassen, solange du lebst, es wird für dich keine Gesellschaft und keine Zerstreuung geben, nie mehr.« Seine Augen starrten sie an wie zwei kalte, schwarze Steine, ohne jedes Gefühl. »Ich meine, was ich sage, Schwester. Keine Bücher, kein Papier, kein Essen außer Wasser und Brot, kein Bad, kein Spiegel, keine Sklavin, keine sauberen Kleider, kein frisches Bettzeug, kein Kohlenbecken im Winter, keine warmen Decken, keine Schuhe, keine Gürtel oder Bänder, mit denen du dich aufhängen könntest, keine Scheren, mit denen du dir die Nägel oder die Haare schneiden könntest, keine Messer, mit denen du dich erstechen könntest - und falls du das Essen verweigerst, werde ich dich gewaltsam füttern lassen.«
    Er schnalzte mit den Fingern. Der Verwalter erschien mit einer Eilfertigkeit, die vermuten ließ, daß er gelauscht hatte. »Bring meine Schwester zurück in ihr Zimmer. Morgen früh, bevor ich meine Klienten empfange, möchte ich sie noch einmal sprechen.«
    Der Verwalter mußte ihr auf die Füße helfen und geleitete sie zur Tür.
    »Morgen früh erwarte ich deine Antwort«, sagte Drusus.
    Wortlos führte der Verwalter Livia in ihre Kammer, schloß die Tür und verriegelte sie.
    Die Dämmerung brach herein. Livia Drusa wußte, daß sie in zwei Stunden von der schwarzen Leere einer langen Winternacht umgeben sein würde. Bis jetzt hatte sie nicht geweint. Die Gewißheit, im Recht zu sein, und eine grenzenlose Empörung hatten sie die ersten drei Tage und Nächte aufrechtgehalten. Danach hatte sie Trost aus den Geschichten geschöpft, die sie über die Leiden und Nöte ihrer Heldinnen gelesen hatte. An der Spitze stand natürlich Penelope, die zwanzig Jahre auf ihren Gatten gewartet hatte, und dann war da noch Danae, die von ihrem Vater in ihrem Schlafzimmer eingesperrt wurde, und Ariadne, die Theseus auf Naxos zurückgelassen hatte... stets hatte es ein glückliches Ende gegeben. Odysseus war nach Hause gekommen, Perseus wurde geboren und Ariadne sogar von einem Gott gerettet...
    Doch durch die Worte ihres Bruders, die immer noch in ihr nachhallten, wurde ihr allmählich der Unterschied zwischen Literatur und Realität bewußt. Literatur war kein Abbild oder Echo des wahren Lebens, sie sollte das Leben eine Welle ausschließen, die Gedanken vom Alltäglichen befreien, den Geist entspannen in einer Welt berauschender Sprache, lebhaft beschriebener Bilder, großartiger und mitreißender Ideen. Im wahren Leben wäre Penelope vergewaltigt und zur Heirat gezwungen worden. Ihren Sohn hätte man ermordet, und Odysseus wäre niemals heimgekehrt. Danae und ihr Neugeborenes wären in der Truhe auf dem Meer getrieben und schließlich ertrunken. Und Ariadne wäre von Theseus geschwängert worden, dann hätte er sie verlassen, und sie wäre bei der einsamen Geburt gestorben...
    Würde Zeus in einem goldenen Regen erscheinen, um die lebenslange Gefangenschaft der modernen Römerin Livia Drusa zu erhellen? Würde Dionysos mit seinem von Leoparden gezogenen Streitwagen in ihre kalte Schlafkammer fahren? Oder würde Odysseus seinen Bogen spannen und ihren Bruder und Caepio mit demselben Pfeil töten, mit dem er die sieben Axtschäfte durchbohrt hatte? Nein! Natürlich nicht! Sie alle hatten vor über tausend Jahren gelebt - wenn es sie überhaupt gegeben hatte, wenn sie nicht nur in den unauslöschlichen Zeilen eines großen Dichters existierten.
    Insgeheim hatte sie sich an den Gedanken geklammert, daß der rothaarige Held auf Ahenobarbus’ Balkon von ihrer Bedrängnis hören, durch das Gitter ihres Gefängnisses eindringen und sie auf eine verzauberte Insel im Meer bringen würde. Sie hatte die entsetzlichen Stunden fortgeträumt und sich ihren Retter vorgestellt, dem Odysseus so ähnlich, so groß, so klug, so erfinderisch und so tapfer wie Odysseus. Das Haus des Marcus Livius Drusus wäre

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