MoR 01 - Die Macht und die Liebe
ich erzählen? Er ist ein Produkt seiner Klasse. Was er macht, macht er gut. So gut, daß neun von zehn Zeugen nie ergründen werden, ob er es so gut macht, weil er ein Naturtalent ist, oder nur, weil er sehr intelligent und gründlich geschult ist. In der ganzen Zeit, die ich mit ihm zusammen war, habe ich kein einziges Anzeichen an ihm bemerkt, das mir gesagt hätte, wo seine natürliche Begabung liegt - oder, anders ausgedrückt, seine eigentliche Berufung. Sicher, er kann Kriege gewinnen und erfolgreich Politik machen, das bezweifle ich nicht - aber nicht mit Leib und Seele.«
Das Kinn des Ehrengastes glänzte vom Öl der Knoblauchsoße. Jugurtha schwieg, während ein Sklave die rasierten und bärtigen Teile seines Gesichts säuberte und abtrocknete. Dann ließ er einen enormen Rülpser ertönen und fuhr fort: »Er wird sich immer für den zweckmäßigen Weg entscheiden, weil ihm die unbedingte Entschlossenheit fehlt, die nur jener unsterbliche Funke einem Menschen geben kann. Wenn Lucius Cornelius vor einer Alternative steht, entscheidet er sich für den Weg, von dem er glaubt, daß er ihn mit den geringsten Kosten ans Ziel bringt. Er ist einfach nicht so unbedingt wie Gaius Marius - oder nicht so weitsichtig, fürchte ich.«
»Wo-Wo-Wo-Woher w-w-weißt du so v-v-v-viel über Lu-Lu-Lu-Lucius Cornelius?« fragte Metellus das Ferkel.
»Ich habe einst einen bemerkenswerten Ritt mit ihm unternommen«, sagte Jugurtha nachdenklich, während er seine Zähne mit einem Zahnstocher bearbeitete. »Und wir sind einmal mit dem Schiff an der africanischen Küste entlang von Icosium nach Utika gefahren. Wir waren viel zusammen.« Die Art, wie er das sagte, ließ die anderen aufhorchen. Was meinte er damit? Aber keiner wagte zu fragen.
Salate wurden hereingetragen, gefolgt von gebratenem Fleisch. Metellus Numidicus und seine Gäste fielen mit Appetit darüber her, nur den beiden jungen Prinzen Iampsas und Oxyntas schien es nicht zu schmecken.
»Sie wollen mit mir sterben«, sagte Jugurtha halblaut zu Rutilius Rufus.
»Der Senat würde nicht zustimmen«, sagte Rutilius Rufus.
»Das habe ich ihnen auch gesagt.«
»Wissen sie, wohin sie kommen?«
»Oxyntas in die Stadt Venusia, wo immer das liegt, und Iampsas nach Asculum Picentum, auch eine mysteriöse Stadt.«
»Venusia liegt im Süden der Campania an der Straße nach Brundisium, und Asculum Picentum liegt nordöstlich von Rom, auf der anderen Seite der Apenninen. Es wird ihnen dort nicht schlechtgehen.«
»Wie lange soll ihre Gefangenschaft dauern?«
Rutilius Rufus überlegte, dann zuckte er die Achseln. »Schwer zu sagen. Mit Sicherheit einige Jahre. Bis der Magistrat der Stadt einen Bericht an den Senat schreibt, in dem steht, daß die beiden so gründlich mit der römischen Sicht der Welt indoktriniert wurden, daß sie keine Gefahr mehr für Rom bedeuten, wenn man sie nach Hause schickt.«
»Dann bleiben sie wohl ihr Leben lang dort. Es wäre besser, sie würden mit mir sterben, Rutilius Rufus!«
»Nein, Jugurtha, ganz sicher sein kann man nie. Wer weiß, was die Zukunft für sie bringt?«
»Das ist wahr.«
Das Mahl schritt fort, noch mehr Braten und Salate wurden aufgetischt, zum Nachtisch gab es Zuckerwerk, Gebäck, Honigkonfekt, Käse, die wenigen Früchte der Saison und Dörrobst. Nur Iampsas und Oxyntas hatten keine rechte Freude an den Leckereien.
Als die Reste abgetragen waren und unverdünnter Wein des besten Jahrgangs in den Gläsern schimmerte, wandte sich Jugurtha an Metellus Numidicus. »Sag, Quintus Caecilius, was wirst du tun, wenn eines Tages ein anderer Gaius Marius auftauchen sollte, mit der ganzen Begabung, Kraft und Weitsicht des Gaius Marius und jenem unsterblichen Funken - ein Gaius Marius, der aber von Geburt ein römischer Patrizier ist?«
Numidicus sah ihn verständnislos an. »Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst, König«, sagte er. »Gaius Marius ist Gaius Marius.«
»Er ist nicht unbedingt einzigartig. Was würdest du mit einem Gaius Marius tun, der aus einer Patrizierfamilie kommt?«
»Das ist unmöglich.«
»Unsinn, natürlich ist es möglich.« Jugurtha ließ einen Schluck des erlesenen Weines aus Chios auf der Zunge zergehen.
Rutilius Rufus mischte sich ein: »Jugurtha, ich glaube, Quintus Caecilius meint, daß Gaius Marius ein Produkt seiner Klasse ist.«
»Ein Gaius Marius kann aus jeder Klasse kommen«, beharrte Jugurtha.
Diesmal schüttelten die Römer einvernehmlich die Köpfe. Rutilius Rufus sprach für die
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