MoR 01 - Die Macht und die Liebe
hin, doch zwischen den Säulen, auf denen die Balkone ruhten, waren so dichte hölzerne Gitter angebracht, daß kein Bewohner auch nur einen Blick nach draußen werfen konnte. Diese Gitter schützten zugegebenermaßen den Hof gegen unerwünschte Einblicke und dämpften den ständigen Lärm, der aus allen Wohnungen drang. Aber dadurch war der Lichtschacht ein trüber, dunkelbrauner Schornstein, der Hof ein ebenso trübes, dunkles Loch. Die oberen Stockwerke bekamen weder Licht noch frische Luft.
Caesar war kaum fort, da bestellte Aurelia den Zimmermann und wies ihn an, alle Gitter zu entfernen.
Völlig entgeistert starrte er sie an.
»Was ist los?« fragte sie verblüfft.
» Domina , es wird keine drei Tage dauern, bis der Hof knietief in Pisse und Scheiße schwimmt. Von den anderen Dingen, die sie dir auf den Kopf schmeißen werden, will ich gar nicht erst reden: Von toten Hunden über tote Omas bis zu unerwünschten Töchtern ist alles möglich.«
Aurelia spürte, wie sie bis unter die Haarwurzeln errötete. Nicht die drastischen Worte des Zimmermanns brachten sie in solche Verlegenheit, sondern ihre eigene Naivität. Sie war so schrecklich dumm und unerfahren! Warum hatte sie nicht selbst daran gedacht? Sie hatte ihr ganzes Leben in großen Privathäusern verbracht und war an den Treppen und Eingängen der Mietshäuser vorbeigelaufen, ohne auch nur die blasseste Ahnung zu haben, wie das Leben darin wirklich aussah. Selbst ihrem Onkel Cotta wäre der Sinn der hölzernen Gitter nicht aufgegangen.
Aurelia schlug die Hände vor das Gesicht und bot dem Zimmermann in ihrer Verwirrung einen so entzückenden Anblick, daß er monatelang von ihr träumte, regelmäßig vorbeikam, um nach dem Rechten zu sehen, und seine Arbeitsleistung auf das Doppelte steigerte.
Aurelia war ihm sehr dankbar.
Nachdem sie den widerspenstigen Epaphroditos endlich hinausgesetzt hatte, konnte sie darangehen, ihre Gartenpläne zu verwirklichen. Wie sich herausstellte, war ihr neuer Mieter Gaius Matius von dem Gedanken an einen Garten ebenso begeistert wie sie.
»Laß mich mithelfen!« bat er inständig.
Sie konnte schlecht nein sagen, wo sie mit solcher Mühe die passenden Mieter ausgewählt hatte. »Natürlich kannst du mir helfen.«
Wieder mußte sie dazulernen: Vom Traum von einem blühenden Garten bis zu den ersten Blüten im Garten war es ein weiter und mühsamer Weg. Gaius Matius erwies sich als unschätzbare Hilfe, er hatte das richtige Händchen für Blumen und Pflanzen. Caesars Badewasser, das früher in den Abwasserkanälen versickert war, speiste jetzt eine kleine Zisterne im Hof. Damit bewässerten sie die Pflanzen, die Gaius mit verblüffender Geschwindigkeit herbeizauberte. Die meisten ließ Gaius, wie er Aurelia gestand, aus dem weitläufigen Garten seines Vaters auf dem Quirinal mitgehen, aber auch überall sonst, wo er geeignete Büsche, Bäume, Weinstöcke oder Sträucher entdeckte. Er wußte, wie man schwächliche Pflänzchen auf starke Wurzelstöcke derselben Art aufpfropfte, er wußte, welche Pflanzen ein bißchen Kalk brauchten und welche in der sauren römischen Erde gediehen. Er wußte, wann die Samen eingesät, die Pflanzen ausgesetzt, die Sträucher beschnitten werden mußten. In einem Jahr verwandelte er den Hof - der immerhin dreißig Fuß lang und dreißig Fuß breit war - in eine grüne Laube, und vom Hof aus rankte sich an den Gittern zwischen den Säulen der Efeu dem handtuchbreiten Stück Himmel hoch oben entgegen.
Eines Tages klopfte Shimon, der jüdische Schreiber, bei ihr an. Mit seinem langen Bart und den langen Locken, die aus seinem kleinen Käppchen quollen, mutete er Aurelia reichlich fremdartig
» Domina Aurelia, wir vom vierten Stockwerk möchten dich um einen ganz besonderen Gefallen bitten.«
»Laß hören, ich werde tun, was ich kann.«
»Sei versichert, daß wir vollstes Verständnis dafür aufbringen würden, wenn du uns diese Bitte abschlagen solltest, denn unsere Bitte stellt ein Eindringen in deine Privatsphäre dar.« Shimon drückte sich so umständlich und gewählt aus wie sonst nur bei seiner Arbeit. »Würdest du uns die Erlaubnis erteilen, die hölzernen Gitter von unserem Balkon im Lichtschacht zu entfernen? Wir geben dir selbstverständlich unser Wort darauf, daß wir niemals Abfälle oder Unrat hinunterwerfen werden. Wir wären überglücklich, wenn wir bessere Luft atmen und auf deinen wunderschönen Garten hinabblicken könnten.«
Aurelia strahlte übers ganze Gesicht.
Weitere Kostenlose Bücher