Moral in Zeiten der Krise
ärztlichen Friedensbewegung. Ein heimlicher Wunsch geht in Erfüllung: in Moskau für den Frieden sprechen zu können, nachdem ich als Achtzehn-, Neunzehnjähriger auf Russen geschossen hatte und nachdem später meine Eltern von russischen Besatzungssoldaten getötet worden waren. Bald nach meinem Moskauer Auftritt werden Bergrun und ich zu Gorbatschows großem Friedensforum eingeladen, das am 16. Februar 1987 im Kreml stattfindet. Es kommen Wissenschaftler, Schriftsteller, Künstler, Kirchenleute, auch Industrielle und Banker, Frauen und Männer aus allen Kontinenten.
Gorbatschow begeistert mit einer großen Rede zum Thema »Für eine atomwaffenfreie Welt, für das Überleben der Menschheit«:
»Uns alle vereint die Gefahr eines nuklearen Todes, einer ökologischen Katastrophe und eines globalen Ausbruchs der Widersprüche
zwischen Armut und Reichtum in den verschiedenen Teilen der Welt. (...) Deshalb müssen wir trotz aller zwischen uns bestehender Gegensätze lernen, uns
als eine große Familie zu begreifen und entsprechend zu handeln.«
Dies ist das Konzept eines neuen Denkens, das an diePosition Willy Brandts anschließt. Die Bewältigung der Probleme dürften wir nicht allein den Politikern überlassen. Alle gesellschaftlichen Gruppen müssten dazu gehört werden. Die Abrüstung der Atomwaffen müsse vornan stehen. – Er spricht ruhig, aber mit großer Bestimmtheit und Überzeugungskraft.
Es ist eine anspruchsvolle, zu Herzen gehende Rede. Sie will ermutigen und erreicht dieses Ziel. Viele stehen danach an den Ausgängen des Kreml-Saals zusammen, als wollten sie sich ihrer Solidarität gleich hier versichern. Zusammen mit dem Atomphysiker Hans-Peter Dürr sammle ich ein paar Leute. Wollen wir uns nicht zusammentun, auch noch andere gewinnen, um daran weiterzuarbeiten, was Gorbatschow fordert?
Bald sind wir acht, darunter Evgenii Velikov, Vizepräsident der Moskauer Akademie der Wissenschaften. Ihm gefällt unser Plan. Er erzählt später Gorbatschow, was wir vorhaben. Anderntags begrüßt Gorbatschow unsere Idee im Plenum. Andere schließen sich uns an. Es ist die Geburtsstunde einer Initiative, die sich später »International Foundation for the Survival and the Development of Humanity« nennen wird. Am Ende werden wir 30 Leute sein, darunter Susan Eisenhower, Robert McNamara, US -Ex-Verteidigungsminister, später Präsident der Weltbank, John Sculley, Chief Executive Officer von Apple Computers, David McTaggart, Chairman von Greenpeace International – und Andrej Sacharow, den die Welt immer noch in quälender Verbannung wähnt.
Wir treffen uns in Triest, Stockholm, Washington und mehrmals in Moskau, wo Gorbatschow uns jedes Mal empfängt, uns zuhört und mit uns redet wie in einer vertrauten Runde. Gorbatschow fragt jeden von uns, was den Einzelnen oder die Einzelne bewegt undwas wir erwarten. Zu einer denkwürdigen Szene wird eine in großer Offenheit geführte Auseinandersetzung zwischen Sacharow und Gorbatschow. Hier der aus der stalinistischen Verbannung in Gorki befreite standhafte Menschenrechtler, dem die Stalinisten die Entgegennahme des Friedensnobelpreises verboten hatten, dort der Führer der kommunistischen atomaren Weltmacht. Beide im Kampf um die Menschlichkeit in einem apokalyptischen Drama.
Ungeniert kritisiert Sacharow die immer noch unbefriedigende Menschenrechtslage in der UdSSR : Funktionärswillkür, unwürdiger Strafvollzug usw. Gorbatschow hört ruhig zu, gesteht Missstände ein, zeigt Verständnis für Sacharows Ungeduld. Er wünsche selbst die Humanisierung zu beschleunigen, aber die Hindernisse aus langer Tradition ließen sich nur schrittweise überwinden. In keinem Augenblick kehrt Gorbatschow den Machthaber heraus, während Sacharow der Respekt vor Gorbatschows Glaubwürdigkeit anzumerken ist. Es sind zwei, die auf gleicher Augenhöhe das Ziel einer versöhnten Welt vor sich haben.
Ein zentraler Punkt macht beide zu Verbündeten. Es ist das Verlangen, die Nuklearwaffen bis zum Jahre 2000 aus der Welt zu schaffen. Bis heute geht mir nach, mit welcher Verzweiflung Sacharow uns bedrängt, den Kampf gegen die Atomwaffen über alles zu stellen. »Wir können nicht Menschen bleiben, wenn wir diese Waffen behalten wollen!« Wir sollten alle begreifen, erstes Menschenrecht müsse es sein, nicht unter dem Damoklesschwert dieser Bedrohung leben zu müssen. Die eigene Mitschuld an der Erzeugung dieser Gefahr zerreißt Sacharow innerlich. Und wohl alle in der Runde denken daran,
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