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Moral in Zeiten der Krise

Moral in Zeiten der Krise

Titel: Moral in Zeiten der Krise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Eberhard Richter
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dass seine schwere Herzkrankheit auch Ausdruck seines inneren Konfliktes sein dürfte.Am besten versteht ihn aus unserem Kreis Robert McNamara, den seine Vietnam-Schuld ähnlich quält. Die beiden Männer wachsen in unserer Runde zu Freunden zusammen. McNamara wird seine große Vietnam-Autobiographie 1995 mit den Worten abschließen: »Andrej Sacharow sagte: ›Die Verminderung des Risikos, dass die Menschheit in einem Atomkrieg ausgelöscht wird, hat absoluten Vorrang vor allen sonstigen Überlegungen!‹ Er hatte recht.«
    »Wir können nicht Menschen bleiben, wenn wir die Atomwaffen behalten wollen!« Diese Worte Sacharows gehen mir nie wieder aus dem Kopf, ebenso wenig wie die Verzweiflung, mit der er das sagte. Und das verbindet sich in mir unmittelbar mit dem eigenen und dem Schicksal meiner Familie. Undenkbar, was Hitler angerichtet hätte, wäre er schon im Besitz der Atomwaffe gewesen!
    Zusammen mit einigen anderen Stiftungsmitgliedern kann ich Sacharow 1988 zu Reden in die USA begleiten. Viele Amerikaner erwarten einen traumatisierten Ankläger Moskaus, der ihre eigene Hassprojektion verstärkt – und erleben einen Verbündeten Gorbatschows, dessen Friedensinitiative sie ernst nehmen sollen. Zuerst überrascht, erliegen sie mehrheitlich dann doch der Überzeugungskraft des großen Humanisten. Sacharows Vertrauenswerbung für Gorbatschow hinterlässt in Amerika Spuren.
    In unserer Stiftung brüten wir eine Reihe von Projekten aus, die uns weiterbringen sollen in Fragen der Abrüstung, Friedenserziehung, Umweltschutz. Mir wird eine Untersuchung genehmigt, die die russisch-deutsche Verständigung voranbringen soll. Zusammen mit derMoskauer Sozialwissenschaftlerin Galina Andreeva, ihrem Mitarbeiter Leonid Gozman sowie den Kollegen aus der Gießener Psychosomatik Hans-Jürgen Wirth und Roland Schürhoff fragen wir je 1000 Studierende aus Moskau und der Universität Gießen, wie sie sich selbst und gegenseitig einschätzen, wie sie die Chancen für die künftigen Beziehungen zwischen Russen und Deutschen beurteilen. Das Unternehmen kostet viel Arbeit, aber es gelingt. Die Ergebnisse lassen uns staunen:
    Russen wie Deutsche sehen sich selbst kritischer, als sie jeweils von der Gegenseite eingeschätzt werden. Zwischen ihnen herrscht mehr Vertrauen als Misstrauen. Nur wenn es euch in Zukunft gut gehen wird, wird es auch uns gut gehen . Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg brennt noch in den Köpfen, aber nicht als Hass, sondern als unbedingte Mahnung, in Zukunft zusammenzuhalten. Das wird gesagt, obwohl die Politik den Eisernen Vorhang und die Mauer noch nicht beseitigt hat. Die jungen Menschen sind schon da, wohin wir sie durch Verständigungsarbeit erst bringen wollten.
    Ich denke an meine Begleitung der deutschen Nachkriegsjugend zurück, an ihre Entdeckung, dass sie eigentlich ganz anders war, als was von den Eltern aus der Nazi-Vergangenheit in ihre Köpfe eingegangen war. Und nun erkennen die jungen Russen, dass sie den Nachkommen jener im Denken ganz nahe sind, von deren Unterdrückung ihre Eltern ihr Land unter furchtbaren Opfern befreien mussten. Aber nun haben sie einen Gorbatschow vor sich, so wie die deutsche Jugend sich zuvor an einem Willy Brandt aufrichten konnte.
    Und ich selbst? Spiele ich nicht meine alte Rolle weiter? Jetzt in der Nähe Gorbatschows wie früher alsUnterstützer Willy Brandts? Damals in einem Neuanfang nach Hitler, jetzt in einem politischen Neuanfang in der Entstalinisierung? Seinerzeit als Analytiker, Begleiter und Chronist der reformistischen Sozialbewegung, nun als Jugendforscher in der Friedensarbeit? Ist es auch kaum bedeutend, was ich beitrage, so tue ich zumindest etwas für meinen inneren Frieden, so wie Bergrun Genugtuung daraus zieht, wenn sie demnächst zusammen mit den »Frauen für den Frieden« im Balkankrieg ein Flüchtlingslager in Kroatien unterstützen wird.
    Aus unserer Umfrage unter Russen und Deutschen wird ein Buch. Gorbatschow freut sich, als ich es ihm am Vorabend des 1. Golfkrieges bei unserem Treffen im Kreml schenke. Aber da ist der Kalte Krieg gerade vorbei, und unsere Ergebnisse regen keinen mehr auf. Mir persönlich bedeuten sie dennoch viel. Sieht es doch so aus, als bürge die herangewachsene deutsche und russische Jugend für genügend Widerstandskraft, um unwiederholbar zu machen, was vor einem halben Jahrhundert geschehen ist.

Das Gute missfällt uns, wenn wir ihm nicht
gewachsen sind
    Ende der achtziger Jahre weicht die Atomkriegsangst

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