Moral in Zeiten der Krise
Psychoanalyse lehrt, oft geheime Traurigkeit. Resignieren tut weh. Tröstlicher ist, sich an solchen abzureagieren, die der Resignation
widerstehen. Nietzsche traf ins Schwarze mit seiner Deutung: »Das Gute missfällt uns, wenn wir ihm nicht gewachsen sind.« Er kannte diesen Mechanismus nur
zu gut, wie sein schönes Gedicht mit dem Titel »Vereinsamt« zeigt:
Die Welt – ein Tor
zu tausend Wüsten stumm und kalt,
wer das verlor,
was du verlorst, macht nirgends halt.
Nun stehst du bleich
Zur Winter-Wanderschaft verflucht
Dem Rauche gleich
Der stets nach kälteren Himmeln sucht.
Flieg Vogel, schnarr
dein Lied im Wüstenvogel-Ton!
Versteck, du Narr
dein blutend Herz in Eis und Hohn!
Die Krähen schrei’n
und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
bald wird es schnei’n, –
weh dem, der keine Heimat hat.
Warum zerstören sich diese hochintelligenten
Wesen selbst? Eine Schauergeschichte
Unsere Friedensbewegung lebt weiter, allein die ärztliche Friedensorganisation IPPNW in 60 Ländern. Der Friedensnobelpreis, uns 1985 zuerkannt, ist ja, ähnlich wie kürzlich die Verleihung an Obama, weniger als Belohnung denn als Ansporn gedacht. Aber verringert hat sich die Sorge, die Menschheit vor einem akut drohenden Atomtod retten zu müssen. Die Krankheit Friedlosigkeit, wie sie Carl Friedrich von Weizsäcker genannt hat, ist in ein weniger spektakuläres, chronisches Stadium übergetreten. Die offizielle Version, dass die atomare Übermacht der USA und nicht der Versöhnungswille der Völker den Kalten Krieg besiegt habe, lastet auf der Stimmung. Sowohl die narzisstische Gleichgültigkeit, die Bloom bei der amerikanischen Jugend entdeckt, als der hiesige Streit zwischen den unermüdlich Engagierten und den »schnarrenden Wüstenvögeln« lassen den Psychoanalytiker an eine verschleierte Depression denken. Die Macht der Rüstungsindustrie ist ungebrochen, die Ausbreitung einer Mentalität egoistischer Korruption ist unverkennbar. Dazu die Unfähigkeit, sich zu einem energischen Kampf für den Klimaschutz und gegen die Naturzerstörung aufzuraffen – in all diesen Symptomen stecken Entmutigung und Ermattung.
Haben wir es in der Psychoanalyse gelegentlich mit Patienten zu tun, die sich unbewusst beharrlich selbstschädigend verhalten, kann sich eine Methode bewähren, die wir als »paradoxe Intervention« bezeichnen. Anstatt den Patienten ihren Irrweg auszureden, regen wir sie dazu an, ihren eingeschlagenen Weg zu Ende zu denken. Die Hoffnung ist, dass sie nach einer Weile erschrecken,innehalten und ihre Verblendung durchschauen. Irgendwann komme ich auf den Gedanken, eine Satire genau nach diesem Muster zu schreiben, und zwar eine Schauergeschichte. Sie heißt Alle redeten vom Frieden :
In einem späteren Jahrtausend landen Außerirdische auf unserem Planeten. Nach einer Weile kommen sie dahinter: Diese Erde war einmal von Wesen bevölkert, die sich Menschen nannten. Warum sind sie verschwunden? Aus mühsam entzifferten Unterlagen können die Außerirdischen rekonstruieren: Hier gab es neben dürftigen Siedlungen prächtige Städte, wo die Menschen sich einen sagenhaften Lebenskomfort geleistet hatten. Ganze Industrien produzierten Mittel für Gesundheit und Schönheit. Warum sind diese zweifellos hochintelligenten Wesen verschwunden? Zwar hatten sie furchtbare Waffen gehortet. Doch wie hätten diese um ihr Wohl so besorgten Wesen auf den Gedanken kommen sollen, sich selbst umzubringen? Jahrzehnte bleibt das Rätsel ungelöst. Doch dann stoßen die Fremden in einem Bergstollen auf gespeicherte Berichte, aus denen sie erraten können, warum und wie die Irdischen ihren Untergang planmäßig vorbereitet und schließlich vollzogen haben.
Ursprünglich waren sie einem Gott oder mehreren Göttern ergeben, deren Trost und Gnade sie erflehten. Dann aber verführte sie ein aufgeblähtes Selbstbewusstsein dazu, ihre Abhängigkeit in eigene Herrschaft umzuwandeln und sich in einer Art Allmachtsrausch die gewaltigsten Naturkräfte verfügbar zu machen. Gleichzeitig schrumpfte ihr Gewissen. Die Bindungskraft der Liebe verließ sie. Egoismus und Verantwortungslosigkeittrieben sie zu ausufernder Gewalt und zum Zerbrechen ihrer Gemeinschaften. Es gab reichlich Mahner und Warner, aber die wurden als Fortschrittsgegner, Technikfeinde oder schwächliche Gutmenschen heruntergemacht. Pessimistische Intellektuelle und Wissenschaftler schickte man in Therapie oder in Psychotrainings.
Doch irgendwann konnte man sich nicht mehr
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