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Moral in Zeiten der Krise

Moral in Zeiten der Krise

Titel: Moral in Zeiten der Krise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Eberhard Richter
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auch aus den Köpfen der Europäer. In Amerika ist sie schon verflogen. Dort hat der Philosoph Allan Bloom bereits 1987 seinen Bestseller The Closing of the American Mind , zu Deutsch Der Niedergang des amerikanischen Geistes , geschrieben. In der Mentalität der amerikanischen Studenten findet Bloom nichts mehr vom Kalten Krieg, dafür den Rückzug auf eine egozentrische Haltung. Gleichgültigkeit gegenüber der Vergangenheit und das Fehlen einer nationalen Zukunftsvision fallen ihm auf. Eigentlich möchte Bloom aufrütteln. Doch fast jeder Satz seines Porträts der amerikanischen Studenten verrät seine Enttäuschung: »Geistig ungerüstet, beziehungslos, isoliert, mit keinerlei ererbter oder vorbehaltsloser Bindung an irgendetwas oder irgendwen«, lautet sein Urteil, oder auch: »Da gibt es keine Notwendigkeit, keine Moral, keinen gesellschaftlichen Druck, kein Opfer, das zu bringen wäre und das dagegen spräche, diese oder jene Richtung einzuschlagen.«
    Immerhin pochen die Amerikaner darauf, den Kalten Krieg gewonnen zu haben. Pentagon und Rüstungsindustrie triumphieren: Wir haben Gorbatschow totgerüstet. In Deutschland rühmt sich Ex-Kanzler Schmidt: Die amerikanischen Pershing-Raketen, von ihm in die Bundesrepublik geholt, hätten Moskau in die Knie gezwungen. Kein Wort von Gorbatschows Abrüstungsinitiativen. Dieser hat in unserer Foundation erzählt, wie er Ronald Reagan zum Frieden gedrängt und sogar eine vollständige atomare Abrüstung bis zum Millennium verlangt habe.
    Aber warum pochen die Europäer nicht auf ihren Beitrag zur Befriedung? Auf die Entstalinisierung im Osten, auf die von Gorbatschow unterstützte Selbstbefreiung der Länder des Warschauer Paktes? Und schließlich – warum feiert die Friedensbewegung nicht die eigene Leistung, die Gorbatschow mir gegenüber als wichtige Unterstützung gelobt hatte?
    Die Ernüchterung der Europäer folgt verzögert dem amerikanischen Beispiel. Die Atomwaffen bleiben in verminderter Zahl noch da. Aber sie erscheinen weniger schrecklich, etwa wie Raubtiere, die man in sicherer Verwahrung wähnt. Dass die Abrüstung stockt, wird wohl deshalb stumm hingenommen, weil die Leute bemerken, dass sie von einer Realität eingeholt werden, die sie voreilig überwunden geglaubt hatten. Das ist die Friedlosigkeit einer Konkurrenzwelt, die dem Anspruch einer großen Versöhnung immer noch widersteht. Zahlreiche Alt-68er verabschieden sich von ihren ursprünglichen Idealen. Nachträglich erscheint ihnen ihr früheres Aufbegehren wie eine pubertäre Revolte. Sie reden sich den Verrat ihrer humanistischen Visionen als politische Erwachsenheit schön. Aber es ist ihnen nicht wohl dabei. Und deshalb müssen sie die anderen hassen, die weiterkämpfen.
    Im Kursbuch 1994 preisen sie sich selbst stolz als »Verräter«, lassen es damit aber nicht genug sein, sondern müssen, so Henryk M. Broder vornan, verspotten, woran sie gestern noch geglaubt haben. Klaus Bittermann und Gerhard Henschel geben ein Wörterbuch des Gutmenschen heraus, in dem mehr als 30 Autoren 70 Begriffe als »moralisch korrekte Schaumsprache« entlarven, darunter »Menschlichkeit«, »Toleranz«, »Versöhnung«, »Unfähigkeit zu trauern«, »Schwerter zu Pflugscharen«.
    Gerhard Henschel nennt ein Buch Das Blöken der Lämmer und behauptet, »daß leider fast alles Kitsch ist, was seit 1968, wenn nicht schon 1848 oder 1789, von den Linken in Film, Funk und Fernsehen, auf der Straße, in den Hörsälen, über den Wolken, in den Parlamenten, auf Kirchentagen oder Nachtwanderungen, im Betrieb und auf Balkonien, in Verlagen und Versandhäusern, im Kino, auf der Bühne, vor Gericht und hinter den Geräuschkulissen philosophisch, gegenkulturell, frauen- und friedensbewegt, literarisch, künstlerisch und musikalisch kolportiert worden ist«. Also links gleich Kitsch. Als Beispiele reiht er u. a. auf: Heinrich Böll, Günter Grass, Daniel Cohn-Bendit, Erhard Eppler, Erich Fried, Peter Härtling, Rolf Hochhuth, Herbert Grönemeyer, Reinhard Mey, Walter Jens, Ralph Giordano, Robert Jungk, Christa Wolf, Margarete Mitscherlich, Antje Volmer, Horst-Eberhard Richter, Herbert Marcuse, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno.
    Die sich hier als »Verräter« outen, wehren sich, wie leicht zu durchschauen ist, gegen projizierte Selbstvorwürfe. Sie hassen diejenigen, die sie
     selbst einmal waren, als ihnen Worte wie Toleranz, Versöhnung, Menschlichkeit noch Halt gaben nach Auschwitz. Hinter Häme verbirgt sich, wie die
    

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