Moral in Zeiten der Krise
die Freude über unsere drei kleinen Kinder trübte. Auch bei befreundeten, aus Gefangenschaft zurückgekehrten Studenten fanden wir die gleiche Lust auf Kinder und später die Freude an ihnen. Kinder, das war nach den Jahren der Zerstörung, der Gewalt und des Todes ringsum das neue Leben mit der Hoffnung auf eine selbst zu gestaltende Freiheit. Alle Beschwernisse und enormen Lasten wurden leichter mit fröhlichen Kindern.
Das soll nun nicht besagen: Wie toll waren wir in jener Zeit, und warum tut ihr euch heute mit dem Kinderkriegen so schwer? Wir sahen damals nach den schwarzen Jahren vor uns die große Chance der Neugestaltungeiner friedlicheren, freundlicheren Welt. Und das erschien uns mit Kindern an der Seite erfreulicher als ohne sie. Das machte Spaß und war nichts Heroisches. Die Kinder stärkten unseren Mut, das zu überwinden, was uns unsere Jugend verdorben hatte. Doch an dieser Zuversicht mangelt es im heutigen Zeitgeist. Die Leute sehen schon die nächste Wirtschaftskrise kommen. Doch in Wahrheit kommt der Pessimismus von innen. Heimlich zweifeln wir daran, dass wir noch gut genug sind, für eine freundliche Zukunft zu sorgen.
Ich habe das Glück, immer wieder von Schulen eingeladen zu werden, die irgendein Jubiläum feiern oder in denen Lehrer oder Schüler durch Publikationen auf mich aufmerksam geworden sind. Sehr hilfreich sind mir auch zwei Enkelinnen, die meiner Frau und mir laufend erzählen, wie sie als Lehrerinnen ihre Schülerinnen und Schüler erleben. Von meinem Austausch mit Joseph Weizenbaum über unsere Erfahrungen in Schulen habe ich schon Auskunft gegeben. Unser Eindruck: Da wachsen Internet-Süchtige heran. Aber auch viele andere, die Orientierung suchen, es jedoch schwer haben, etwas draußen oder in sich selbst zu finden, das ihren vollen Einsatz lohnt. Es ist ja auch eher unüblich geworden, einander sehr nahe zu rücken. Man weiß nicht viel voneinander. Die Hauptsache ist: Du bist okay, ich bin okay. Dann wird man sich beiderseits nicht zur Last, aber steht unter Umständen einsam da, wenn es einem schlecht geht. Doch vielleicht ist das inzwischen nicht mehr nur die Frage individueller, sondern gemeinsamer Isolation, – in der es vielen an Kraftreserven fehlt, andere wieder aufzurichten. So dass manlieber wegschaut, als irgendwo hilfreich beizuspringen. Warum bringt sich ein erfolgreicher Fußballtorwart um? Wie wird ein ganz unauffälliger Schüler zum Amokläufer? Der hatte sich an die Psychiatrie gewandt, aber dort wohl nicht erkennen lassen, wie schlecht es ihm ging. Beide versetzten das ganze Land in einen Schock: Leben wir alle auf so dünnem Eis? Was sind wir für eine Gesellschaft, die solche Verzweiflungstaten zulässt? Von Joseph und mir hat diese Jugend jedenfalls zu hören bekommen: Es ist möglich und notwendig, dass wir mit Zuversicht daran arbeiten, die Verhältnisse freundlicher und friedlicher zu machen. Wir erzählen, was wir Alten immer noch tun, aus dem Glauben heraus, dass sich Engagement langfristig doch immer wieder lohnt.
Meine beiden Enkelinnen sind leidenschaftliche Lehrerinnen. Beide unterrichten u. a. in Kunst. Sie sind begeistert, mit welcher Lust und Kreativität ihre Schüler bei Projekten mitmachen. Sie erzählen, wie die Kinder danach hungern, dass man sie wahrnimmt, dass man sich persönlich für sie interessiert. Tatsächlich gibt es Schulen, wo von oben bis unten ein freundliches Klima herrscht, wo der Umgang miteinander Freude macht und nicht durch Leistungsdruck erstickt wird, der immer schon die Verwertbarkeit im späteren Wirtschafts-Stress im Blick hat. Die Gesellschaft kann nur menschlicher werden, wenn Kindheit als eine Lebensstrecke mit eigenen Bedürfnissen, Visionen und Interessen und nicht nur als Vorbereitungsphase für die sogenannte eigentliche Wirklichkeit begriffen wird.
Immer wieder erlebe ich so etwas bei Besuchen in Schulen, wie plötzlich zwischen den Sechzehn- bisAchtzehnjährigen und mir, dem Mann Mitte 80, eine Stimmung von Vertrautheit entsteht. Dabei fällt auf, wie nahe den Jungen auch immer noch der Schrecken des Holocaust ist, näher als manchen der mittleren Generation, die nicht mehr wissen wollen, was in ihnen steckt von der Last jener, die vor ihnen da waren. Die heute Achtzehnjährigen aber interessieren sich dafür, was ein damals Achtzehn- und jetzt über Achtzigjähriger aus jener Zeit gelernt hat und warum er sich unvermindert intensiv für Frieden und gegen soziale Verantwortungslosigkeit
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