Mord allein macht auch nicht glücklich: Ein Provinzkrimi (German Edition)
Strähnchen – vom Kopf leuchteten. Sie trug gern ausladende Ohrgehänge – ein Arrangement aus Basteldraht, Perlen und Vogelfedern, das sie an einem der viel zu vielen kalten und öden Wintertage hier auf dem Lande selbst hergestellt hatte. Bekleidet war sie mit einem fersenlangen, taillenlosen, lehmfarbenen Leinenkleid, das, anders als sein wuchtiges, kaum filigranes Erscheinungsbild es vermuten ließ, angenehm leicht und luftig zu tragen war. Gerade in einem warmen Frühjahr wie diesem, das heute allerdings mit einem Unwetter aufwartete, das sich gewaschen hatte. Ein drittes markantes Merkmal, neben Frisur und Kleidung, war die große Lesebrille mit türkisfarbenem Acrylrahmen, die sie an einem Seidenband um den Hals trug und sich bei Bedarf auf die stets ein wenig gerümpfte Nase setzte.
Frau Schmidt-Balldruscheidt war die ehrenamtliche Leiterin der Kulturscheune zu Wiepershof, ein Amt, in das sie der Vorstand des Wiepershofer Kulturscheune e.V. gewählt hatte, dem auch ihr Mann, Herr Schmidt-Balldruscheidt, angehörte. Zu Herrn Schmidt-Balldruscheidt sei nur so viel angemerkt, dass er erstens eine Art Handelsvertreter für hochpreisige Industriemaschinen war, woraus zweitens folgte, dass er sich häufiger auf Geschäftsreisen befand als zu Hause, was allerdings drittens dafür sorgte, dass er ordentlich Geld verdiente. Genug in jedem Fall, um beispielsweise einen Hof im brandenburgischen Wiepershof zu erwerben, wo es sich um einiges besser lebte als in der hannoverischen Vorstadt, aus der sie vor einigen Jahren gekommen waren. Die Gegend um Wiepershof war noch nicht zersiedelt, und wollte man zum Einkaufen oder der Kultur wegen in eine Stadt, war man recht schnell in Berlin, entweder mit dem Auto oder mit dem Regionalexpress, der von Jüterbog ging. Aber das Beste war: Wollte man mal in eine Stadt, musste man nicht mit einem Ersatz wie Hannover vorliebnehmen.
Das Einzige, was Frau Schmidt-Balldruscheidt ein bisschen störte, waren die Einheimischen, die Ur-Wiepershofer. Sie kamen ihr wortkarg vor, misstrauisch und störrisch, um gar nicht erst mit Begriffen wie »Kultur«, »Zivilisation« oder »Empfindsamkeit« zu hantieren. Den alten Herrn Krüger aus dem Dorf verdächtigte Frau Schmidt-Balldruscheidt sogar des Analphabetentums, aber beweisen konnte sie es natürlich nicht, weil er sich weigerte, in ihrem Beisein ein paar Sätze aufzuschreiben oder auch nur eine einzige Seite vorzulesen, wenn Frau Schmidt-Balldruscheidt ihn auf der Straße traf und ganz zufällig ein Buch dabeihatte.
Im Übrigen war der alte Herr Krüger früher von Beruf Schmied gewesen, was sich, schon lange bevor er in Rente gegangen war, nicht mehr gelohnt hatte. Höchstens ein paar Pferde hatte er hin und wieder noch beschlagen oder Gartenzäune für reiche Exzentriker angefertigt wie zum Beispiel für Herrn Schmidt-Balldruscheidt und seine papageienhafte Gattin. Kein Wunder also, dass er froh gewesen war, als ebenjener Herr Schmidt-Balldruscheidt auf ihn zugekommen war und gefragt hatte, ob er seine Schmiede nicht verkaufen wolle. Und zwar an einen Kulturverein, der sich in Gründung befinde. Man wolle Kultur und Diskussionen, Gesprächskreise und Dichterlesungen und Ausstellungen mit Niveau, eben den ganzen Firlefanz, mit dem die Zugezogenen immer ankamen. Egal, ob auf den Dörfern oder in Jüterbog oder in Dahme.
Natürlich hatte Herr Krüger gewollt, denn seine Rente, das war abzusehen, würde mehr als bescheiden ausfallen. Also war die Schmiede in den Besitz des Kulturscheune e. V. übergegangen, der in der Zwischenzeit gegründet worden war. Eigentlich hätte er ja Kultur schmiede e. V. heißen sollen, doch das klang dann, vor allem für einige weibliche Vereinsmitglieder, etwas zu martialisch. Es klang nach Schweiß und Muskeln, nach nackten, muskulösen Männeroberkörpern, die im Feuerschein … Egal.
Außer den Zugezogenen wurden auch Teile des städtischen Bürgertums aus Dahme und Jüterbog und selbst aus Luckenwalde Vereinsmitglieder: Buchhändler, Optiker, Apotheker, Ärzte sowie ein Dutzend Gymnasiallehrer, Pensionäre und ambitionierte Hausfrauen. Gewissermaßen war die Kulturscheune in eine Marktlücke gestoßen. In den wenigen Jahren ihres Bestehens war sie zu einer Institution geworden, deren guter Ruf weit über die Grenzen des Landkreises Teltow-Fläming gedrungen war. Und ja: Frau Schmidt-Balldruscheidt war stolz darauf, die Leiterin einer solchen Institution zu sein.
Sie warf einen erneuten Blick auf den
Weitere Kostenlose Bücher