Mord am Niddaufer - ein Kriminalroman
Eschersheim, nur wenige Kilometer vom Leichenfundort entfernt. Will schaute sich die Meldung genauer an. Das Mädchen hieß Lea Schuster, 170 cm groß, schlank, schwarze Haare, grüne Augen, blasser Teint. Als besonderes Merkmal war eine Narbe über der rechten Augenbraue angegeben. Die elektronische Akte enthielt noch drei Fotos. Das erste zeigte Leas Gesicht. Will vergrößerte das Bild und musterte das junge Mädchen. Sie lächelte in die Kamera, kokettierte fast ein wenig. Das Gesicht zeigte Aufgeschlossenheit und Neugierde. Will klickte auf das nächste Foto. Es war schon etwas älter. Die Gesichtszüge wirkten ein wenig jünger. Die Haare waren kürzer. Das dritte Bild zeigte Lea Schuster wieder mit längeren Haaren in einem schwarzen Sommerkleid. Sie hielt ein Blatt Papier in die Kamera. Will konnte auf Anhieb nichts weiter erkennen, als einen länglichen schwarzen Fleck. Sie begann, das Bild aufzuzoomen. Mit jedem Klick stieg ihre Anspannung, wurde das Kribbeln in ihrem Magen stärker.
„Bingo.“ Sie blickte zu Bohlan, der die ganze Zeit den Bericht der KTU durchgesehen und nebenbei die Fotos vom Tatort sortiert hatte.
„Tom, ich habe sie gefunden.“
Tom Bohlan wusste sofort, was seine Kollegin meinte. In manchen Momenten schien es ihm, als sei sie für ihn ein offenes Buch. Die Erlebnisse der vergangenen Jahre hatten sie fest zusammengeschweißt. Sie waren zu einem Team geworden, kannten die Gewohnheiten und Reaktionen des Anderen. Sie hatten gelernt, sich gegenseitig einzuschätzen und zu vertrauen. Will, die im letzten Jahr die dreißig übersprungen hatte, war längst von einem abenteuerlustigen, aber etwas naiven Mädchen zu einer gestandenen Kommissarin gereift. Bohlan stand jetzt hinter Will und blickte mit ihr zusammen in die gleiche Richtung, auf das gleiche Foto, welches ein junges Mädchen zeigte, das sein ganzes langes Leben noch vor sich zu haben schien. Aber eine kleine Zeichnung, die sie in den Händen hielt, konnte der Vorbote eines grausigen Schicksals sein: die gezeichnete Lilie.
Sorgenvoll stand Natascha Weller unter einer Straßenlaterne und blickte zum Haus der Familie Schuster. Sie war erst vor wenigen Minuten den Berkersheimer Weg hinaufgelaufen, nachdem sie viele lange Minuten an der geschlossenen Bahnschranke gestanden hatte. Entgegen ihrer Gewohnheit war sie nicht den Weg über die nur wenige hundert Meter entfernt stehende Fußgängerbrücke gelaufen, die durch eine waldähnliche Anlage entlang des Sportplatzes führte. Schon zu normalen Zeiten hatte dieser Weg etwas Geheimnisvolles, beinahe Gespenstiges. Hinter jedem Stamm oder Busch konnte jemand stehen. Natascha Weller war kein ängstliches Mädchen und sie ging diesen Weg oft, bei Tag und auch in der Nacht, und trotzdem war sie jedes Mal froh, wenn sie die Straße erreicht hatte. Doch jetzt, nach Leas Verschwinden und dem grausigen Leichenfund, hatte sie der Mut verlassen. Wilde Gerüchte waren im Umlauf über eine verstümmelte Leiche, schlimm zugerichtet, zur Unkenntlichkeit verunstaltet. Freilich hatte niemand die Leiche gesehen, aber die Tatsache, dass die Polizei den Fundort weiträumig abgesperrt und zudem mit einer Fahne verhängt hatte, ließ die wildesten Gerüchte wie Kraut in den Himmel schießen. Die Eingemeindung Eschersheims lag über hundert Jahre zurück, doch der Stadtteil war ein Dorf geblieben, vor allem im alten Ortskern waren viele Leute miteinander bekannt. Es gab eine evangelische Kirche mit Gemeindehaus, den Turnverein, die Freiwillige Feuerwehr und den einen oder anderen weiteren Verein – also genug Berührungspunkte für ausgeprägte Klatschgeschichten. Soviel Natascha mitbekommen hatte, handelte es sich um eine Wasserleiche. Seit einigen Tagen wurde ihre Freundin Lea vermisst. Wenn sie es richtig durchdacht hatte, war es Montag gewesen, als sie sie zuletzt gesehen hatte. Heute war Donnerstag. Dass Lea für mehrere Tage von der Bildfläche verschwand, war mehr als ungewöhnlich. Sie war eine ziemlich zuverlässige Person. Man konnte sich auf sie tausendprozentig verlassen. Die beiden verband eine lange Freundschaft. Sie waren zusammen durch dick und dünn gegangen, seit sie sich in der Sandkiste kennengelernt hatten. Damals war das Baugebiet gerade im Entstehen gewesen. Sie hatten zusammen die Grundschule besucht und waren dann auf das Gymnasium gewechselt. Natürlich hatte es mal den einen oder anderen Streit gegeben, wie es in einer Mädchenbeziehung üblich ist, doch letztlich hatten sie
Weitere Kostenlose Bücher