Mord an der Mauer
Funk darüber informiert, dass an der Sektorengrenze geschossen worden ist. Der Hauptwachtmeister ist Streifenführer der Polizeiinspektion Mitte und erhält den Auftrag, zur Charlottenstraße zu fahren und die Grenztruppen »abzusichern«. Umgehend macht er sich mit seinem Funkstreifenwagen auf den Weg. Mularczyk ist in einer ländlichen Gegend nördlich von Berlin aufgewachsen, und weil seine Familie aus Landwirten besteht, hat er den Beruf des Traktoristen erlernt. Doch als dann die »bewaffneten Organe«, wie das in der DDR heißt, Nachwuchs suchten, wurde sein Vater eines Tages gefragt, ob er nicht einen seiner fünf Söhne schicken wolle. Die Familie beriet – und Heinrich ging. Auf ähnliche Weise waren auch die Grenzpolizisten, die jetzt auf ihren Vorgesetzten warten, »verpflichtet« worden.
Das Gebiet zwischen Markgrafen- und Charlottenstraße auf der Westseite der Mauer füllt sich weiter. Auch an den Fenstern der Druckerei des Axel Springer Verlags sind die Menschen immer zahlreicher zu sehen. Längst ist von Peter Fechter kein Flehen mehr zu hören – die zuerst deutlich vernehmbaren Hilferufe sind schnell einem resignierenden Klagen gewichen und dann ganz verstummt. Hilflos harren viele West-Berliner auf der Charlottenstraße aus, es graut ihnen bei dem Gedanken, dass wenige Meter entfernt gerade ein Mensch stirbt und sie nichts tun können. Manche empfinden Scham. Ähnlich ergeht es den Augenzeugen auf der Ostseite. Und je länger die unsägliche Untätigkeit andauert, umso mehr kippt auf der Westseite die Stimmung. Immer häufiger, lauter und deutlicher hallt der Ruf »Mörder, Mörder« über die Mauer. Unter den aufgebrachten Zuschauern, die sich hinter den Polizisten halten, ist Dieter Beilig. Der junge Demonstrant vom 13. August hat die Schüsse in der nahe gelegenen Bundesdruckerei, in der er arbeitet, gehört. Er will sehen, was knapp 300 Meter weiter vor sich geht, und hat unter dem Vorwand, er habe heftige Zahnschmerzen und müsse nach Hause, seine Schicht verlassen.
Derweil versuchen die Männer der IV. Grenzabteilung, wenigstens nicht noch mehr Beweisfotos für den »Grenzzwischenfall« entstehen zu lassen. Ein fluchtwilliger DDR-Bürger ist am helllichten Tag mitten in der Stadt niedergeschossen worden. Jeder Grenzer weiß, wie die West-Berliner Zeitungen darauf reagieren, und so müssen weitere Bildaufnahmen verhindert werden. Die Grenzer sehen den Kameramann Herbert Ernst und schleudern Tränengasbomben über die Mauer. Derlei lassen sich die West-Berliner Polizisten nicht bieten: Sie werfen die Granaten zurück. Polizeimeister Bergau bemerkt, wie sich hinter den Schießscharten im Erker des Hauses Zimmerstraße Nr. 72–74 etwas bewegt. Angebliche Augenzeugen der Schüsse gaben ihm Auskunft, dass aus diesem Erker auf den Flüchtling gefeuert worden sei. Zornig werfen Bergau und seine Kollegen einige Gasgranaten gezielt auf diesen Erker. Auch wenn sie die schmalen Öffnungen in der groben Vermauerung verfehlen, steigt das Tränengas dennoch vor dem Erker auf. Darauf hört Bergau Stimmen von der Ost-Berliner Straßenseite aus: »Hört auf, wir waren das nicht!« Und: »Wir haben doch nichts gemacht!« Die Wut der West-Berliner Polizisten ist verraucht, denn mit Tränengas helfen sie dem verletzten DDR-Bürger auch nicht.
Nicht nur durch die Fenster der Zeitungsdruckerei wird die Szene von erhöhter Position aus beobachtet, schräg gegenüber, auf der Ostseite, steht Hertha Kalk im Chefzimmer des Büros für Urheberrecht in der Zimmerstraße 65, Ecke Markgrafenstraße, seit einiger Zeit ebenfalls am Fenster. Als die Schüsse fallen, lässt die Chefsekretärin die Akten, die sie gerade ordnet, fallen und tritt sofort ans Fenster. Als Erstes sieht die 49-Jährige auf West-Berliner Seite einen Mann schemenhaft und im Zickzack wegrennen. Dann fällt ihr Blick auf die Mauer, wo sie eine liegende Gestalt entdeckt. Hertha Kalk hört sein Flehen: »So helft mir doch, helft mir doch!« Von der anderen Seite der Mauer schallen wütende Rufe herüber. In der Redaktion der Neuen Zeit , die im Verlagshaus Union ihren Sitz hat, machen mehrere Mitarbeiter ähnliche Beobachtungen. Obwohl der Chefredakteur des Parteiblattes der Ost-CDU bald die klare Weisung gibt, alle sollten von den Fenstern zurücktreten, schauen einige weiter hinaus.
Dazu gehört auch Fotograf Dieter Breitenborn. Der 26-Jährige ist gerade von einem Termin im Ost-Berliner Tierpark zurück in die Redaktion gekommen, als ihm
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