Mord an der Mauer
gegen halb drei Uhr nachmittags die seltsame Stille vor dem Haus auffällt. Er sieht einen Grenzposten flach hinter der Fahrzeugsperre auf der Straße liegen und drückt, ohne nachzudenken, auf den Auslöser seiner Kamera. Der Pförtner murmelt ihm zu, es seien »eine Menge Schüsse gefallen«. Breitenborn weiß, was das bedeutet: Es hat einen »Grenzzwischenfall« gegeben. Er rennt die Treppen hoch in sein Zimmer und reißt das Fenster auf. Von hier aus kann er die ganze Szenerie überblicken. Auf West-Berliner Seite sieht Breitenborn Streifenwagen, Uniformierte mit Gewehren und viele aufgeregte Zivilisten, die auf die Polizisten einreden. Auf der Ostseite entdeckt er weitere Grenzer, die in Deckung liegen. Der Fotograf schaut in die andere Richtung, zur Friedrichstraße. Am Checkpoint Charlie fallen ihm US-Soldaten auf, die betont teilnahmslos auf Posten stehen, als bekämen sie nichts mit von dem, was sich in ihrer Nähe abspielt. Den Grund dafür kann auch Breitenborn nicht ausmachen. Wieder und wieder schaut er an der Ost-Berliner Seite der Mauer entlang, doch erst nach einigen Minuten fallen ihm Füße auf, die hinter einer der Verstärkungen hervorragen.
Als Breitenborn gerade hinauf zu seinem Zimmer rennt, kommt der Volkspolizist Mularczyk an der Sektorengrenze an. Zwar hat die Ost-Polizei im Sperrgebiet vor der innerstädtischen Grenze keinerlei Befugnisse, aber der 24-jährige Hauptwachtmeister kennt sich aus: Bis vor wenigen Monaten hat er selbst als Feldwebel ganz in der Nähe der Zimmerstraße Dienst bei den Grenztruppen geschoben. Der breitschultrige, 1,90 Meter große Mann ist eine Respekt einflößende Gestalt, der glänzende Tschako auf seinem Kopf verstärkt diesen Eindruck noch. Seinen Streifenwagen vom Typ EMW 340 stellt er an der Charlottenstraße ab und läuft ohne Zögern weiter zum Sperrgebiet. Seit den Schüssen ist etwa eine halbe Stunde vergangen.
Wenige Minuten später trifft Hauptmann Heinz Schäfer ein, dessen Fahrer den GAZ-69 auf Maximaltempo beschleunigt hatte. Rasch verschafft sich der 31-jährige Offizier einen Überblick, dann gibt er einen klaren Befehl: »Einnebeln!« Er fordert Mularczyk auf, ihn zu begleiten, und geht durch einen engen Durchlass im Stacheldraht direkt ins Sperrgebiet. Vom Ausländerübergang Friedrich-/Ecke Zimmerstraße nähern sich derweil zwei Gefreite der Grenztruppen. Horst Wurzel und Klaus Lindenlaub haben einen Entschluss gefasst: Sie wollen durch das Sperrgebiet zu dem Verletzten laufen und schauen, ob sie ihm helfen können. Ohne Order eines Offiziers dürfen sie das allerdings nicht, weshalb sie längere Zeit gezögert haben. Jetzt stoßen sie auf Mularczyk und Schäfer. Der Hauptmann befiehlt ihnen, den Verletzten zu bergen. Langsam, ihre Kalaschnikows zwar auf den Asphalt gerichtet, aber doch feuerbereit in den Händen, rücken sie hintereinander im Schutz der Mauer vor. Die auf Schäfers Weisung geworfenen Nebelgranaten lassen dichte Schwaden über die Mauer ziehen. Binnen Kurzem erreichen Wurzel und Lindenlaub den Verletzten. Sie stellen fest, dass er noch lebt, und legen ihm einen Notverband an. Dann hebt einer der beiden den schlaffen Körper auf und trägt ihn die wenigen Meter bis zur vermauerten Kreuzung Charlottenstraße, während der andere hinterhergeht und seinen Kameraden sichert. Sie legen den Verletzten direkt im Schatten der Mauer ab und winken Unterstützung heran. Mittlerweile kreist über der Szenerie ein US-Hubschrauber und verunsichert die DDR-Grenzposten zusehends.
Von seinem Fenster aus kann Dieter Breitenborn den Abtransport genau sehen. Er hat seine Kamera herausgenommen und dokumentiert, wie Wurzel und Lindenlaub vorrücken, wie sie sich über den Verletzten beugen und ihn in seine Richtung tragen. Der Fotograf ist allein im Zimmer und darauf bedacht, keinem DDR-Grenzer und keinem Kollegen aufzufallen. Der künstliche Nebel behindert ihn kaum, die Schwaden verziehen sich schnell. Er verfolgt, wie auf das Winken der beiden Grenztruppengefreiten hin zwei weitere Uniformierte quer über das Sperrgebiet direkt bis an die Mauer gehen. Es sind Heinrich Mularczyk und ein weiterer Volkspolizist. Zu viert packen sie den Verletzten und tragen ihn so schnell wie möglich zum hinteren Stacheldraht. Damit verschwinden sie aus Breitenborns Blickwinkel.
Dafür sind sie jetzt von West-Berlin aus zu sehen. Herbert Ernst hat einige weitere Schwenks gedreht. Die Mauer ist ihm sehr vertraut, seine ersten Filmaufnahmen als Kameramann hat
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