Mord an der Mauer
der gebürtige Berliner am 13. August 1961 gemacht, dem Tag des Mauerbaus. Die Nebelschwaden verraten ihm, dass gleich etwas geschehen wird. Ernst hastet über die Brachfläche zu einem der Podeste, auf dem schon zwei Polizisten stehen, schiebt sich an ihnen vorbei und hebt die Kamera. Genau im richtigen Augenblick. Denn Sekunden später rennen, exakt auf seiner Linie, die vier Ost-Uniformierten mit Peter Fechter aus dem Schatten der Mauer über den Todesstreifen zum Zaun. Für wenige Sekunden ist zu sehen, wie die Grenzsoldaten Wurzel und Lindenlaub den leblosen Körper über den Stacheldraht heben. Auf der anderen Seite stehen Hauptmann Schäfer und Mularczyk, der bereits hinübergestiegen ist.
Auf einen solchen Moment hat auch Fotoreporter Wolfgang Bera gewartet. Auf seiner Leiter sitzend, hat er auf westlicher Seite der Charlottenstraße das Teleobjektiv auf seine Kamera geschraubt. Jetzt macht er das wichtigste Foto seines Lebens: Mit angsterfüllten Augen blickt Klaus Lindenlaub in Richtung West-Berlin. Horst Wurzel stützt den Kopf des Verletzten und hält seinen linken Arm. Heinz Schäfer dirigiert seine Untergebenen und sorgt dafür, dass Heinrich Mularczyk das Opfer übernehmen kann.
Der Volkspolizist, der in seiner Freizeit als Schwergewichtler boxt, trägt den 1,73 Meter großen, aber schmächtigen Fechter, als wöge er nichts, und steigt über die Fahrzeugsperre. In dieser Sekunde drückt Bera erneut auf den Auslöser. Mularczyk zwängt sich durch die Schlupföffnung im Stacheldraht und eilt am Stacheldrahtzaun vorbei auf die Charlottenstraße. Der hünenhafte Uniformierte läuft mit dem leblosen Peter Fechter in den Armen auch an den wenigen Zuschauern ganz nahe am Sperrgebiet vorbei. Einige weichen zurück. Es ist kurz vor 15 Uhr, knapp 50 Minuten sind vergangen, seit die Schüsse abgegeben worden waren. Ein zweiter Polizist tritt zu Mularczyk, fasst mit an, dann fallen sie gemeinsam in den Laufschritt – so rasch es geht heraus aus dem Grenzgebiet, aus dem Sichtfeld westlicher Kameras.
Den ganzen Abtransport filmt Herbert Ernst. Die 44 Sekunden kurze Sequenz sind die ersten bewegten Bilder überhaupt, die vom Abtransport eines Opfers der Berliner Mauer gemacht werden.
Auch Renate Pietsch und Wolf-Dieter Zupke sehen dem Abtransport zu, sie sind ein Stück die Charlottenstraße hochgegangen und können so die Schützenstraße einsehen, in der ein normales Polizeifahrzeug steht, kein Krankenwagen. Beiden fällt auf, dass der Verletzte wie tot wirkt. Sie bemerken, wie er hinten regelrecht auf die Ladefläche geworfen wird, dann fährt die Funkstreife mit dem Kürzel »Toni 1« los, so schnell wie möglich. Ziel ist das Krankenhaus der Volkspolizei. Hierher werden alle Verletzten gebracht, die bei einem Fluchtversuch an der innerstädtischen Grenze gescheitert sind. Um 15:08 Uhr trifft der Polizeiwagen in der Notaufnahme ein, der diensthabende Mediziner Robert Wabnitz registriert mit einem Blick, dass ihm ein Sterbender gebracht wird. »Moribund« notiert er auf dem Einlieferungsformular, »nicht mehr ansprechbar« und »Schnappatmung«. Die Pupillen sind »maximal erweitert«, die Haut ist blass und fühlt sich kalt an, ein Puls lässt sich nicht mehr fühlen. Der 27-jährige Wabnitz horcht seinem Patienten die Brust ab, doch auch so kann er keinen Herzschlag mehr feststellen. Nach zwei Minuten Untersuchung ist dem jungen Arzt klar, hier kommt jede medizinische Hilfe zu spät. Peter Fechter ist verblutet.
Zorn und Trauer
M it dem Tod eines Menschen endet seine Geschichte nicht. Vor allem dann nicht, wenn sein Schicksal andere Menschen bewegt. Willy Brandt erfährt von den Schüssen auf Peter Fechter in Bonn, wo er mit Bundeskanzler Konrad Adenauer an diesem 17. August 1962 die Lage in Berlin bespricht. Der Regierende Bürgermeister erwartet mehr finanzielle Unterstützung von der Bundesregierung und eine »Eventualplanung«, falls die Westalliierten ihr Verhalten den Sowjets gegenüber ändern sollten. Als Innensenator Heinrich Albertz ihn telefonisch vom blutig verlaufenen Fluchtversuch in Kenntnis setzt, kann Brandt ein aktuelles Beispiel für die Menschenrechtsverletzungen durch das Grenzregime der DDR anführen. Er bittet Albertz, ihn auf dem Laufenden zu halten.
Zunächst hatte der Innensenator gar nicht auf die Nachricht von Schüssen an der Zimmerstraße reagiert. Erst als Mitarbeiter ihm knapp eine halbe Stunde später die Umstände schildern, eilt er an den Tatort. Albertz
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