Mord an der Mauer
lässt sich von seinen Beamten unterrichten und unterhält sich kurz mit Fechters Freund Helmut Kulbeik, der auf die Frage des Senators, warum sie die Flucht am hellen Tage gewagt hatten, antwortet: »Wir dachten, Frechheit siegt. Uns ist es ja auch gelungen, bis dicht an die Mauer heranzukommen.« Albertz fährt zurück in sein Büro und beruft eine Pressekonferenz ein.
Auf West-Berliner Seite des Tatorts harren einige Beobachter aus, darunter Dieter Beilig. Zwei Jugendliche erkennen ihn und fragen, wo denn sein Kreuz mit der Aufschrift »Wir klagen an« sei. Beilig macht sich auf den Weg zum Polizeirevier und bittet um die Rückgabe des Kreuzes, das er für einen gerade erschossenen Flüchtling an der Mauer aufstellen wolle. Nach Fechters Abtransport hatte jemand auf der Ostseite ein Schild mit der Mitteilung aus einem Fenster gehalten, dass der Angeschossene tot sei. Ein Auto bringt Beilig und das Kreuz, das durch das offene Schiebedach herausragt, zur Kochstraße zurück. Flankiert von den beiden Jugendlichen, läuft Beilig auf die Mauer zu, DDR-Grenzer fotografieren die Szene. Er lehnt sein Kreuz an die Betonwand, um es dort zu befestigen. Doch ihm fehlt Werkzeug, außerdem befürchtet er, dass die Grenzposten es zu sich herüberziehen. Also leiht sich Beilig irgendwoher eine Schaufel, gräbt vor der Mauer ein Loch, setzt das Kreuz hinein und fixiert es mit Steinen. Der Kommandeur der 1. Grenzbrigade, Oberst Gerhard Tschitschke, notiert den genauen Zeitpunkt: »Gegen 17:30 Uhr wurde festgestellt, dass auf gegnerischer Seite, vier Meter von der Mauer entfernt, gegenüber dem Tatort, ein Holzkreuz aufgestellt und Blumen abgelegt werden.«
Renate Pietsch und Wolf-Dieter Zupke stehen noch auf der Charlottenstraße, als sie von Männern in Zivil plötzlich barsch zum Mitkommen aufgefordert werden. Zupke fragt empört, was das soll, erhält aber keine Antwort. Weder der 19-Jährige noch seine 17-jährige Freundin haben bemerkt, dass eine Kollegin aus der Verwaltung der Union-Druckerei sie denunziert hat. Ohne Widerstand folgen sie den Männern, die sie für Stasimitarbeiter halten. Da muss Renate Pietsch an ihren Vater denken, der erst vor wenigen Tagen aus dem Gefängnis gekommen ist. Der einstige Besitzer einer kleinen Druckerei hatte an der Mauer nach Fluchtmöglichkeiten für die Familie gesucht und war dabei aufgefallen. Sie fürchtet, ihr Vater bekomme nun wieder Ärger, und raunt ihrem Freund zu, ihn nicht zu erwähnen. Sie wird umgestoßen und verletzt sich dabei am Kopf, die Männer wollen eine Absprache des Pärchens untereinander verhindern. Getrennt werden sie zum Ost-Berliner Polizeipräsidium in die Keibelstraße gefahren.
Davon bekommt Fotograf Dieter Breitenborn nichts mit. Als die Grenzposten und die Volkspolizisten mit Peter Fechter aus seinem Blickfeld verschwunden sind, schließt er das Fenster in der Redaktion Neue Zeit . Gerade als er in die Dunkelkammer gehen will, betritt der Redaktionssekretär den Raum. Viele Kollegen ahnen schon länger, dass er für die Stasi arbeitet. Ohne einen Grund zu nennen, fordert der Spitzel: »Geben Sie mir den Film.« Breitenborn rückt in seiner Verblüffung die Aufnahmen sofort heraus.
In der Zwischenzeit ist Wolfgang Bera zur Bild -Redaktion geeilt, um seinen Film so schnell wie möglich entwickeln zu lassen. Auch Kameramann Herbert Ernst hetzt zum Büro von German Television News, damit seine Aufnahmen noch am Abend im Fernsehen gezeigt werden können. Seine Auftraggeber sind zufrieden, und Ernst freut sich über ein Honorar von 100 D-Mark sowie zwei Flaschen Whisky von einer Agentur, die Standbilder aus dem Film erwirbt.
Die Ost-Berliner Ermittler lassen keine Zeit verstreichen: Die Mordkommission nimmt ihre Arbeit auf, deren Chef Hans Werner Zlab den Fall unter der Nummer 64 in sein Tätigkeitsbuch einträgt. Eigentlich ist das Grenzgebiet für die Ermittler tabu, doch wenn die Identität eines Toten unbekannt ist, werden sie von der Grenzpolizei hinzugezogen. In der Arbeitskleidung Fechters haben sich keine Hinweise auf seine Identität gefunden. So kann die Aufklärungsabteilung des Ministeriums des Innern dem Ministerium für Staatssicherheit am Nachmittag lediglich berichten, es handele sich bei dem Toten »um einen ca. 22- bis 23-jährigen männlichen Jugendlichen, der keinerlei Ausweispapiere bei sich führte«. Später fügt jemand per Hand den Namen »Fechter« ein. Auch der Volkspolizist Heinrich Mularczyk hält das Vorkommnis im
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