Mord an der Mauer
dem, was er schon bei der polizeilichen Vernehmung gesagt hat. Erich Schreiber kann sich an Einzelheiten nicht mehr erinnern, nicht einmal mehr an den Brief, den er seiner damaligen Freundin wenige Tage nach Fechters Tod geschrieben hat und in dem er sich bekennt, der Todesschütze zu sein. Beide berufen sich auf den Befehl, der ihnen keine Alternative gelassen habe, als zu schießen. Auf Nachfrage des Gerichts geben die Angeklagten zu, sich schuldig zu fühlen. »Es tut mir so leid«, stammelt Friedrich, und Schreiber findet mühevoll einige Worte: »Ich wollte nicht töten. Aber ich kann es nicht mehr ändern. Es ist unfassbar.« Der Nebenklägerin Ruth Fechter können beide nicht ins Gesicht sehen. Aufsehen erregt der gerichtsmedizinische Befund, den Otto Prokop vorträgt, manche Berichterstatter sehen darin gar die »Sensation« des Verfahrens. Bis dahin hat die Öffentlichkeit nicht gewusst, dass Fechter allein durch den einen Schuss tödlich verletzt worden ist: Die Verletzungen hätten seinen Tod herbeigeführt, »selbst wenn er unverzüglich und pausenlos mit Blutkonserven versorgt worden wäre«, stellt der Gutachter fest. Helmut Kulbeik erscheint nicht vor Gericht, die Staatsanwaltschaft kann nur mitteilen, er sei seit einem Jahr nicht mehr auffindbar.
Vor allem die Angehörigen der Familie Fechter bedauern das. Ruth Fechter hat seit dem Mauerfall versucht, Kontakt zu ihm aufzunehmen, doch Kulbeik hat sich einem Gespräch immer verweigert. Die Fechters können das zwar verstehen, denn auch für ihn sei die Flucht am 17. August 1962 sicherlich ganz schrecklich gewesen, weil er beschossen worden ist und sein Freund nicht überlebt hat. Vielleicht sei Schweigen seine Strategie, damit klarzukommen. »Wir machen ihm keinen Vorwurf«, stellt Fechters Nichte Jutta Döring fest: »Er kann ja nichts dafür, dass er es geschafft hat und Peter nicht.« Andererseits sind die Motive für die Flucht noch immer unklar. Was hat Peter in seinen letzten Stunden gedacht und gefühlt? Helmut Kulbeik hätte zumindest nach dem Mauerfall, mit zeitlichem Abstand darüber reden können, meint Jutta Döring: »Ich glaube, das hat meine Familie schon erwartet.«
Juristisch ist die Sachlage so eindeutig, dass die Richter der 21. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin schon nach einem Verhandlungstag die Beweisaufnahme schließen. Am 5. März 1997 kommen die Beteiligten wieder zusammen. Alle Prozessparteien bemühen sich um Sachlichkeit, Staatsanwaltschaft und Verteidiger halten betont maßvolle Plädoyers. Ruth Fechters Anwalt übertrifft seine Kollegen noch: »Hohes Gericht, Ansinnen der Nebenklägerin ist es, mit der Darlegung ihrer Motive und Bewertung der Ergebnisse der Beweisaufnahme im Lichte des eigenen Erlebens als Hinterbliebene von Peter Fechter zu einer Entscheidung beizutragen, welche die begründbare Verantwortung der Angeklagten in ihrer damaligen Situation in einer Weise verdeutlicht, die in letzter Instanz auch als ein Signal für das Bemühen um Überwindung von Entfremdung und den Abbau von Feindbildern heute verstehbar ist.« Wenn das Verfahren »auch nur in bescheidenem Maße« dazu beitrage, dass Mütter ihre Kinder künftig nicht mehr beweinen müssten, weil sie von anderen als Feinde betrachtet würden, »dann hat dieser Prozess auch über die bloße juristische Bedeutung hinaus einen Sinn«.
Nach kurzer Beratung verkünden die drei Richter im Namen des Volkes ihr Urteil. Obwohl sie zugunsten des Angeklagten Erich Schreiber, der zur Tatzeit noch nicht 21 Jahre alt war, Jugendstrafrecht anwenden, werden, verglichen mit anderen Prozessen gegen Mauerschützen, relativ hohe Strafen verhängt: 21 Monate Haft gegen Friedrich und 20 Monate Jugendhaft gegen Schreiber, beides wegen gemeinschaftlich begangenen Totschlags in Tateinheit mit versuchtem Totschlag. Mit letzter Sicherheit können die Richter zwar nicht aufklären, ob tatsächlich Schreiber den tödlichen Schuss abgegeben hat, doch sie gehen davon aus. Strafmildernd wirkt, dass beide Angeklagte nicht freiwillig zu den DDR-Grenztruppen gekommen und sie zum Schusswaffeneinsatz »vergattert« worden waren. Auf einen Befehlsnotstand können sie sich dennoch nicht berufen. Den Umstand, dass das Opfer nahezu 50 Minuten unversorgt am Fuß der Mauer verblutet ist, lastet das Gericht den beiden Schützen nicht an, denn daran hatten sie keinen maßgeblichen Anteil – weshalb sich diese Tatsache auch nicht strafverschärfend auswirkt. Weil beide nicht
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