Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mord auf der Leviathan

Mord auf der Leviathan

Titel: Mord auf der Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
Vom Netzwerk:
Ihrer Majestät dem ägyptischen Khedive die Aktienmehrheit abgekauft, und jetzt verwalten wir Briten den Kanal. Die Aktie, die anfangs für 15 Pfund verkauft wurde, ist heute 3 000 wert! Ist das nicht toll? Wie sollte ich da ernst bleiben?
    Im übrigen langweile ich Sie gewiß mit diesen trockenen Details. Seien Sie mir nicht gram, meine teure Emily, ich habe keinen anderen Zeitvertreib, als lange Briefe zu schreiben. Wenn meine Feder über das Velinpapier kratzt, ist mir, als säßen Sie neben mir, und wir führten eine erquickliche Unterhaltung. Sie müssen wissen, in dem heißen Klima fühle ich mich bedeutend besser. Ich kann mich morgens nicht mehr an die Alpträume erinnern, die mich nächtlicherweile quälen, aber sie sind noch da, denn wenn ich in der Frühe aufwache, ist das Kopfkissen naß von Tränen, manchmal auch von meinen Zähnen zerbissen.
    Aber das sind Lappalien. Jeder neue Tag, jede zurückgelegte Meile bringt mich dem neuen Leben näher. Dort, unter der freundlichen Äquatorsonne, wird diese entsetzliche Trennung, die mir die Seele zerrissen hat, endlich vorbei sein. Wenn es nur
schneller ginge! Ich fiebere dem Moment entgegen, da Ihr strahlender, zärtlicher Blick wieder auf mir ruht, meine liebe Freundin.
    Womit könnte ich Sie noch zerstreuen? Vielleicht mit der Beschreibung unserer »Leviathan«, ein mehr als würdiges Thema. In den vorhergehenden Briefen habe ich zu viel von meinen Gefühlen und Träumen geschrieben und Ihnen nicht diesen Triumph der britischen Ingenieurkunst in den schönsten Farben ausgemalt.
    Die »Leviathan« ist das größte Passagierschiff der Weltgeschichte, mit Ausnahme der kolossalen »Great Eastern«, die schon seit zwanzig Jahren die Wasser des Atlantik furcht. Jules Verne, der die »Great Eastern« in dem Buch »Die schwimmende Stadt« beschrieb, hat unsere »Leviathan« nie gesehen, sonst würde er die alte »G. E.« in »Das schwimmende Dorf« umbenannt haben. Sie verlegt ja nur Telegraphenkabel auf dem Grunde des Ozeans. Die »Leviathan« hingegen kann tausend Personen und zusätzlich 10   000 Tonnen Fracht transportieren. Die Länge unseres feuerspeienden Monsters übersteigt 600, die Breite erreicht 80 Fuß. Ist Ihnen bekannt, wie ein Schiff gebaut wird, liebe Emily? Zunächst wird der Linienriß des zu bauenden Schiffes auf dem Schnürboden (einem überdachten Raum) in einen besonders geglätteten Holzbelag eingeritzt. Der Linienriß der »Leviathan« war so gewaltig, daß extra ein Gebäude von der Größe des Buckingham-Palastes errichtet werden mußte!
    Das Wunderschiff besitzt zwei Dampfmaschinen, zwei mächtige Seitenräder und eine gigantische Schraube am Heck. Sechs Masten ragen bis hinauf in den Himmel, sie sind voll betakelt, und bei achterem Wind und großer Maschinenfahrt entwickelt das Schiff eine Geschwindigkeit von 16 Knoten! Hier haben die neuesten Errungenschaften der Schiffbauindustrie Anwendung
gefunden. Dazu gehören: die doppelte metallene Außenhaut, die das Schiff selbst bei einem Aufprall auf einen Felsen rettet, spezielle Seitenkiele, die das Schlingern dämpfen, elektrische Beleuchtung, wasserdichte Räume, gewaltige Kühlanlagen für den produzierten Dampf – alles läßt sich nicht aufzählen. Die gesamte Erfahrung jahrhundertelanger Arbeit des erfinderischen und unermüdlichen menschlichen Verstandes ist in diesem stolzen Schiff gebündelt, das furchtlos die Meereswellen teilt. Gestern habe ich nach alter Gewohnheit die Heilige Schrift an der erstbesten Stelle aufgeschlagen und war erschüttert – ins Auge fielen mir die Zeilen über Leviathan, das gefährliche Seeungeheuer aus dem Buche Hiob. Ich erbebte, als ich plötzlich begriff, daß dort keineswegs von einer Seeschlange die Rede war, wie die Alten glaubten, und nicht von einem Pottwal, wie die heutigen Rationalisten behaupten – nein, in der Bibel wird eindeutig von der »Leviathan« gesprochen, die mich aus Finsternis und Entsetzen hinführen wird zu Glück und Licht. Urteilen Sie selbst: »Die Tiefe läßt er wie den Kessel sieden und macht das Meer zu einem Salbentopf. Aufleuchtet hinter ihm der Pfad; man hält das Meer für Greisenhaar. Es gibt nicht seinesgleichen auf der Erde, dazu geschaffen, ohne Furcht zu sein. Verächtlich schaut er alles Hohe an, und König ist er aller stolzen Tiere.« Der Salbentopf – das ist das Schmieröl, der aufleuchtende Pfad hinter ihm – das ist die Hecksee. Das ist doch offensichtlich!
    Und da überkam mich Angst, liebe Emily.

Weitere Kostenlose Bücher