Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mord auf der Leviathan

Mord auf der Leviathan

Titel: Mord auf der Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
Vom Netzwerk:
Diese Zeilen bergen eine gefährliche Warnung – für mich persönlich, für die Passagiere der »Leviathan« oder für die ganze Menschheit. Vom Standpunkt der Bibel ist doch Stolz etwas Schlechtes, oder? Und wenn der Mensch verächtlich alles Hohe anschaut, drohen da nicht irgendwelche katastrophalen Folgen? Sind wir nicht gar zu stolz auf unseren flinken Verstand und unsere geschickten
Hände? Wohin führt uns der König aller stolzen Tiere? Was steht uns bevor?
    Ich schlug das Buch auf, um zu beten, zum erstenmal seit langer Zeit. Und plötzlich las ich: »Das ist ihr Herz, daß ihre Häuser währen immerdar, ihre Wohnungen bleiben für und für; und haben große Ehre auf Erden. Dennoch kann ein Mensch nicht bleiben in solchem Ansehen, sondern muß davon wie das Vieh. Dies ihr Tun ist eitel Torheit; doch loben’s ihre Nachkommen mit ihrem Munde.«
    Als ich aber, von einem mystischen Gefühl ergriffen, mit zitternder Hand das Buch zum drittenmal aufschlug, fiel mein entzündeter Blick auf die langweilige Stelle aus dem vierten Buch Mose, wo mit buchhalterischer Genauigkeit die Opferdarbringungen der Geschlechter Israels aufgezählt werden. Da beruhigte ich mich, läutete mit dem silbernen Glöckchen und bestellte mir beim Steward eine heiße Schokolade.
    Der Komfort in dem Teil des Schiffes, der dem honorigen Publikum vorbehalten ist, übersteigt jede Phantasie. In dieser Beziehung sucht die »Leviathan« in der Tat ihresgleichen. Dahin sind die Zeiten, als Reisende nach Indien oder China in enge dunkle Kämmerchen gezwängt, übereinander gestapelt wurden. Sie wissen, geliebte Gattin, wie sehr ich an Klaustrophobie leide, aber auf der »Leviathan« fühle ich mich wie am weitläufigen Ufer der Themse. Hier gibt es alles Notwendige, um der Langeweile zu entfliehen: einen Tanzsaal, einen Musiksalon für klassische Konzerte und eine ganz passable Bibliothek. Die Erste-Klasse-Kabine steht, was die Ausstattung angeht, dem besten Londoner Hotelzimmer nicht nach. Von solchen Kabinen hat das Schiff hundert. Überdies hat es 250 Kabinen zweiter Klasse mit 600 Betten (ich habe nicht hineingeschaut, denn ich kann Armseligkeit nicht ertragen), außerdem soll es noch umfängliche Frachträume geben. Allein an Bedienungspersonal hat
die »Leviathan«, die Matrosen und Offiziere nicht gerechnet, mehr als 200 Leute – Stewards, Köche, Diener, Musiker, Kabinenstewardessen. Denken Sie nur, ich bedaure überhaupt nicht, Jeremy nicht mitgenommen zu haben. Der Tagedieb hat dauernd seine Nase in Dinge gesteckt, die ihn nichts angingen, und hier kommt um elf das Mädchen, räumt auf und führt meine Aufträge aus. Das ist bequem und vernünftig. Wenn man will, ruft man mit dem Glöckchen den Diener herbei, damit er beim Ankleiden hilft, aber das halte ich für überflüssig, ich ziehe mich selber an und aus. In meiner Abwesenheit ist es dem Personal strengstens untersagt, die Kabine zu betreten, und wenn ich hinausgehe, klemme ich ein Haar in die Tür. Ich habe Angst vor Spionen. Glauben Sie mir, liebste Emily, dieses Schiff ist eine richtige Stadt, und es gibt alles mögliche Gesindel.
    Meine Kenntnisse über den Dampfer habe ich hauptsächlich von Leutnant Regnier, der auf sein Schiff richtig stolz ist. Ansonsten ist er ein unsympathischer Mensch, und ich habe ihn ernsthaft im Verdacht. Er bemüht sich nach Kräften, den Gentleman zu spielen, aber mich führt er nicht hinters Licht, ich kann die minderwertige Rasse riechen. Um sich einzuschmeicheln, hat der Kerl mich in seine Kabine eingeladen. Ich habe hineingeschaut, weniger aus Neugier als aus dem Wunsch, den Grad der Bedrohung abzuschätzen, welche dieser dunkelhäutige Herr darstellen könnte (über sein Äußeres s. meinen Brief vom 20. März). Die Ausstattung seiner Kabine ist kärglich, was noch stärker ins Auge fällt durch geschmacklose Nippes (chinesische Vasen, indische Räuchergefäße, ein minderwertiges Seestück an der Wand usw.). Auf dem Tisch steht inmitten von Karten und Navigationsgeräten ein großes Photo einer Frau in Schwarz mit einer Inschrift auf französisch: »Allezeit sieben Fuß unterm Kiel, mein Liebling! Françoise B.« Ich fragte, ob es seine Frau sei. Nein, seine Mutter. Rührend, aber der Verdacht bleibt.
Ich habe auch weiterhin die Absicht, selber alle drei Stunden den Kurs zu überprüfen, obwohl ich dazu zweimal in der Nacht aufstehen muß. Gewiß, einstweilen fahren wir durch den Suezkanal, da ist es vielleicht überflüssig, doch ich will

Weitere Kostenlose Bücher