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Mord auf der Leviathan

Mord auf der Leviathan

Titel: Mord auf der Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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immer mit seinem Fächer, und Mrs. Truffo beäugte indigniert dieses ungehörige Eindringen in die Privatsphäre eines anderen.
    Der Zeitungsausschnitt beinhaltete folgendes:
    DAS VERBRECHEN DES JAHRHUNDERTS: EINE NEUE WENDE?
     
    Die teuflische Ermordung von zehn Menschen in der Rue de Grenelle bewegt weiterhin die Gemüter der Pariser Bürger. Bislang gab es hauptsächlich zwei Theorien: die von einem manisch besessenen Arzt und die von einer Sekte blutgieriger fanatischer Hindus, Anhängern des Gottes Schiwa. Aber wir vom »Soir« haben unabhängige Recherchen angestellt und konnten einen Umstand ermitteln, der möglicherweise dem Fall eine Wende gibt. Wie wir herausfanden, wurde der verstorbene Lord Littleby in den letzten Wochen mindestens zweimal in Gesellschaft der internationalen Abenteurerin Marie Sansfond gesehen, die der Polizei in vielen Ländern bestens bekannt ist. Der Baron de M., ein enger Freund des Ermordeten, hat mitgeteilt, Milord habe für eine gewisse Dame geschwärmt, und er habe sich am Abend des 15. März nach Spa begeben wollen, zu einem romantischen Stelldichein. Ob es wohl Madame Sansfond war, die ihn zu diesem Treffen bestellt hatte? Es kam nicht zustande, da der arme Kollektionär in einem so unpassenden Moment von einem Podagraanfall heimgesucht wurde. Die Redaktion unterfängt sich nicht, eine eigene Theorie aufzustellen, hält es jedoch für ihre Pflicht, Kommissar Coche auf diesen bemerkenswerten Umstand hinzuweisen. Weitere Mitteilungen zu diesem Thema demnächst.
     
    CHOLERAEPIDEMIE IM ABKLINGEN
     
    Das städtische Gesundheitsamt teilt mit, daß die Herde der Cholera, derer man seit dem Sommer Herr zu werden versucht, endgültig lokalisiert sind. Die energischen prophylaktischen Maßnahmen der Pariser Ärzte haben gegriffen, und man darf hoffen, daß die Epidemie dieser gefährlichen Krankheit, die schon im Juli ausbrach, endlich
     
    »Was soll das?« Renate zog verblüfft die Stirn kraus. »Ein Mord, eine Epidemie.«
    »Nun, die Cholera ist in dem Zusammenhang unwichtig«, erklärte Professor Sweetchild. »Die Nachricht ist zufällig mit ausgeschnitten worden. Es geht natürlich um den Mord in der Rue de Grenelle. Haben Sie nicht davon gehört? Von dem Fall haben doch alle Zeitungen berichtet.«
    »Ich lese keine Zeitungen«, erklärte Madame Kleber würdevoll. »In meinem Zustand ist das zu enervierend. Ich muß nicht über jede Scheußlichkeit informiert sein.«
    »Kommissar Coche?« Leutnant Regnier kniff die Augen ein, nachdem er die Notiz nochmals überflogen hatte. »Das wird doch nicht unser Monsieur Coche sein?«
    Miss Stomp ächzte auf.
    »Das gibt’s doch nicht!«
    Die Frau des Doktors trat herzu. Die Sensation war perfekt, und alle redeten durcheinander: »Polizei, hier ist französische Polizei im Spiel!« rief Milford-Stokes aufgeregt.
    Regnier murmelte: »Der Kapitän fragt mich dauernd nach dem Salon ›Hannover‹ aus.«
    Der Doktor übersetzte wie immer für seine Frau. Der Russe bemächtigte sich des Ausschnitts und studierte ihn aufmerksam.
    »Das mit den indischen Fanatikern ist völliger Unsinn«, erklärte Sweetchild. »Ich habe das von Anfang an gesagt. Erstens gibt es keine blutgierige Sekte von Schiwa-Anhängern. Und zweitens hat sich die Statuette bekanntlich wohlbehalten wieder angefunden. Hätte ein religiöser Fanatiker sie etwa in die Seine geworfen?«
    »Ja, das mit dem goldenen Schiwa ist ein Rätsel.« Miss Stomp nickte. »Sie schreiben, er sei die Perle in der Sammlung von Lord Littleby gewesen. Stimmt das, Herr Professor?«
    Der Indologe zuckte nachsichtig die Achseln.
    »Wie soll ich’s Ihnen sagen, gnädige Frau. Die Sammlung von Lord Littleby ist erst kürzlich entstanden, vor zwanzig Jahren. In solcher Frist ist es schwer, Herausragendes zusammenzutragen. Der Tote soll sich während der Niederschlagung des Sepoy-Aufstands 1857 sehr bereichert haben. Den berüchtigten Schiwa zum Beispiel soll ihm ein Maharadscha ›geschenkt‹ haben, dem wegen Verbindung zu den Meuterern ein militärisches Feldgericht drohte. Zweifelsohne enthielt Lord Littlebys Sammlung etliche Kostbarkeiten, aber die Auswahl war ziemlich chaotisch.«
    »Nun erzählen Sie mir doch endlich, warum dieser Lord ermordet wurde«, verlangte Renate. »Monsieur Aono weiß es auch nicht, stimmt’s?« wandte sie sich an den Japaner, der abseits stand.
    Der Japaner lächelte nur mit den Lippen und verbeugte sich. Der Russe tat, als applaudiere er.
    »Bravo, Madame Kleber. Sie

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