Mord auf der Leviathan
fragen genau auf den Punkt. Ich habe den Fall in der Presse verfolgt. Das Motiv für das Verbrechen ist meiner Meinung nach hier w-wichtiger als alles andere. Da liegt der Schlüssel für die Lösung. Ja, warum? Zu welchem Zweck wurden zehn Menschen ermordet?«
»Ach, grade das ist einfach!« sagte Miss Stomp. »Der Plan war, die wertvollsten Stücke der Sammlung zu rauben, aber der Verbrecher verlor die Nerven, als er unvermittelt auf den Hausherrn traf. Er hatte ja angenommen, der Lord wäre verreist. Es ist wohl ein Unterschied, ob man jemandem eine Spritze gibt oder ob man ihm den Schädel einschlägt. Aber das weiß ich nicht, ich habe es noch nie versucht.« Sie ruckte mit den Schultern. »Die Nerven des Verbrechers haben nachgegeben, und so hat er die Sache nicht zu Ende geführt. Und was den weggeworfenen Schiwa angeht …« Miss Stomp überlegte. »Vielleicht ist das der schwere Gegenstand, mit welchem dem armen Littleby der Kopf zerschmettert wurde. Es ist durchaus denkbar, daß dem Verbrecher menschliche Gefühle nicht fremd waren und er sich einfach ekelte, vielleicht auch fürchtete, das blutbespritzte Mordwerkzeug in der Hand zu halten. Darum ging er zum Fluß und warf den Schiwa in die Seine.«
»Das mit dem Mordwerkzeug ist sehr wahrscheinlich«, bemerkte der Diplomat. »Ich bin der gleichen M-meinung.«
Die alte Jungfer erglühte vor Freude, wurde jedoch gleich darauf verlegen, als sie Renates spöttischen Blick auffing.
»You are saying outrageous things«, sagte die Frau des Doktors vorwurfsvoll zu Clarissa Stomp, nachdem sie die Übersetzung angehört hatte. »Shouldn’t we find a more suitable subject for table talk?« 1
Aber der Appell der farblosen Person verhallte ungehört.
»Ich meine, am rätselhaftesten ist der Tod der Bediensteten!« mischte sich der langschlaksige Indologe in die kriminalistische Diskussion. »Wieso haben die sich die Injektionen geben lassen? Unter ihnen waren immerhin zwei Wächter, und beide hatten einen Revolver umgeschnallt. Da liegt der Hund begraben.«
»Ich habe meine eigene Hypothese«, sagte Regnier mit wichtiger Miene. »Und ich bin bereit, sie wo auch immer zu vertreten. Das Verbrechen in der Rue de Grenelle wurde von einem Menschen verübt, der außergewöhnliche mesmeristische Fähigkeiten besitzt. Die Bediensteten befanden sich in mesmeristischer Trance, das ist die einzig mögliche Erklärung! Der ›tierische Magnetismus‹ ist eine furchtbare Kraft. Ein erfahrener Manipulator kann mit Ihnen machen, was er will. Jaja, Madame«, wandte er sich an die ungläubig guckende Mrs. Truffo. »Wirklich alles.«
»Not if he is dealing with a lady« 2 , antwortete sie streng.
Der vom Dolmetschen strapazierte Dr. Truffo wischte sich mit dem Taschentuch die schweißnasse Stirn und trat zur Verteidigung der wissenschaftlichen Weltanschauung an.
»Ich erlaube mir, anderer Meinung zu sein«, sagte er auf französisch mit starkem Akzent. »Die Lehre des Herrn Mesmer gilt seit langem als wissenschaftlich unbegründet. Die Kraft des Mesmerismus oder, wie er jetzt genannt wird, der Hypnose, wird stark übertrieben. Der angesehene Mister James Braid hat überzeugend nachgewiesen, daß nur psychologisch beeinflußbare Individuen der hypnotischen Einwirkung erliegen, und auch nur dann, wenn sie dem Hypnotiseur vertrauen und einer hypnotischen Seance zustimmen.«
»Man merkt sofort, daß Sie noch nicht den Orient bereist haben, lieber Doktor!« Regnier lächelte mit weißen Zähnen. »Auf jedem indischen Basar zeigt Ihnen ein Fakir solche Wunder der mesmeristischen Kunst, daß selbst dem ärgsten Skeptiker die Augen übergehen. Aber das sind Tricks! In Kandahar habe ich einmal einer öffentlichen Exekution zugeschaut. Nach muselmanischem Gesetz wird Diebstahl mit dem Abhacken der rechten Hand geahndet. Diese Prozedur ist dermaßen schmerzhaft, daß die Delinquenten häufig am Schmerzschock sterben. Diesmal wurde ein Kind des Diebstahls überführt. Da der Junge zum zweitenmal erwischt worden war, mußte das Gericht ihm die von der Scharia vorgesehene Strafe auferlegen. Aber der Richter war barmherzig, er ließ einen Derwisch holen, der für seine wundertätigen Fähigkeiten berühmt war. Der Derwisch faßte den Verurteilten bei den Schläfen, sah ihm in die Augen, flüsterte etwas – und der Junge beruhigte sich, hörte auf zu zittern. Auf seinem Gesicht erschien ein sonderbares Lächeln, das nicht einmal in dem Moment verschwand, als der Henker ihm mit der Axt die
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