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Mord auf der Leviathan

Mord auf der Leviathan

Titel: Mord auf der Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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den letzten Tagen tödliche Gefahr geschwebt, und die Schiffsführung hatte nichts davon gewußt. Cliff-san war schamrot. Sein Ansehen hatte einen empfindlichen Schlag bekommen. Ich wandte mich taktvoll ab, um ihm die Schmach zu erleichtern.
    Dann bat der Kapitän die Zeugen des Vorfalls in den Salon »Hannover« und hielt uns eine Ansprache voller Kraft und Würde. Vor allem entschuldigte er sich für das Vorkommnis. Er bat uns, niemandem von dem »bedauerlichen Vorfall« zu erzählen, denn sonst könne es auf dem Dampfer zu einer Massenpsychose kommen. Er versprach, unverzüglich die Laderäume, den Doppelboden, die Vorratsräume und sogar die Kohlebunker durchsuchen zu lassen. Und er versicherte, daß es auf seinem Schiff keine schwarzhäutigen Einbrecher mehr geben werde.
    Der Kapitän ist ein guter Mann. Ein richtiger Seebär. Er spricht unbeholfen, in kurzen Sätzen, doch man sieht, daß er ein festes Herz hat und für seine Sache brennt. Ich hörte, wie Truffo-san einmal dem Kommissar erzählte, Kapitän Cliff sei Witwer und hänge mit großer Liebe an seiner einzigen Tochter,
die in einem Schweizer Pensionat erzogen werde. Ich finde das sehr rührend.
    Es scheint, daß ich ein wenig zu mir komme. Die Zeilen fließen gleichmäßiger, die Hand zittert nicht mehr. Ich kann zum Unangenehmsten übergehen.
    Bei der oberflächlichen Untersuchung von Kleber-san war mir aufgefallen, daß sie keine Hämatome hatte. Ich stellte auch ein paar weitere Überlegungen an, die ich dem Kapitän und dem Kommissar mitteilen wollte. Vor allem aber wollte ich die schwangere Frau beruhigen, die nach der Erschütterung noch immer außer sich war und sich in eine Hysterie hineinsteigerte.
    Ich sagte ihr in freundlichstem Ton: »Vielleicht wollte der Schwarze Sie gar nicht töten, Madame. Sie kamen so unerwartet herein und machten Licht, da ist er einfach erschrocken. Er ist ja …«
    Sie ließ mich nicht ausreden.
    »Erschrocken ist er?« zischte sie mit plötzlicher Wut. »Oder sind Sie vielleicht erschrocken, Monsieur Asiat? Meinen Sie, ich habe nicht gesehen, wie Sie sich mit Ihrer gelben Visage hinter dem Rücken anderer Leute versteckt haben?«
    So hatte mich noch nie jemand beleidigt. Am schlimmsten war, daß ich nicht so tun konnte, als wären das die zänkischen Worte einer hysterischen dummen Gans, die sich mit einem verächtlichen Lächeln abtun ließen. Kleber-san hatte mich an der empfindlichsten Stelle getroffen!
    Eine Antwort fiel mir nicht ein. Ich litt grausam, und sie sah mich mit einer vernichtenden Grimasse an. Wenn ich in diesem Moment in die berüchtigte Hölle der Christen hätte stürzen können, würde ich selbst den Lukenhebel gezogen haben. Am schrecklichsten war, daß sich der rote Schleier der Raserei über meine Augen legte, ein Zustand, den ich besonders fürchte. In diesem Zustand nämlich kann ein Samurai Taten begehen,
die für sein Karma schädlich sind. Er muß dann sein Leben lang die Schuld sühnen, weil er für einen Moment die Selbstkontrolle verlor.
    Ich verließ den Salon, aus Furcht, ich könnte mich nicht beherrschen und der schwangeren Frau etwas Entsetzliches antun. Ich weiß nicht, ob ich bei einem Mann so die Gewalt über mich behalten hätte.
    Ich schloß mich in meiner Kabine ein und holte den Beutel mit den ägyptischen Kürbissen hervor, die ich in Port Said auf dem Basar gekauft hatte. Sie sind klein, kopfgroß und sehr hart. Fünfzig Stück hatte ich erstanden.
    Um den roten Schleier vor den Augen wegzukriegen, trainierte ich den geraden Handkantenschlag. Da ich jedoch hocherregt war, mißlangen die Schläge: Die Kürbisse spalteten sich nicht in zwei Hälften, sondern zersprangen in sieben oder acht Stücke.
    Es ist schwer.

ZWEITER TEIL

ADEN – BOMBAY
     

GINTARO AONO
     
     
    7. Tag des 4. Monats
    In Aden
     
    Der russische Diplomat ist ein Mann von tiefem, fast japanischem Verstand. Fandorin-san besitzt die uneuropäische Fähigkeit, eine Erscheinung in ihrer Ganzheit zu sehen, ohne in kleinen Details und technischen Einzelheiten steckenzubleiben. Die Europäer sind unübertroffene Experten in allem, was die Fertigkeiten betrifft, sie kennen bestens das Wie. Wir Asiaten dagegen besitzen Weisheit, denn wir wissen Warum. Für die Behaarten ist der Prozeß der Bewegung wichtiger als das Endziel, wir dagegen lassen kein Auge von dem in der Ferne flimmernden Leitstern, darum finden wir recht häufig nicht die Muße, nach rechts und links zu schauen. Deshalb sind die Weißen fast

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