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Mord auf der Leviathan

Mord auf der Leviathan

Titel: Mord auf der Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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sich das von selbst: »Doch, Mademoiselle, eben wegen des Tuchs. Der Schiwa wurde nur zur Ablenkung mitgenommen und gleich von der nächsten Brücke in die Seine geworfen, weil er nicht mehr benötigt wurde.«
    Der Kommissar bemerkte: »Für russische Bojaren« (ich habe vergessen, was dieses Wort bedeutet, muß nachschlagen) »ist eine halbe Million Francs vielleicht eine Bagatelle, aber die meisten Menschen rechnen anders. Zwei Kilogramm reinen Goldes wurden also nicht mehr benötigt! Sie haben sich ganz ordentlich vergaloppiert, Herr Diplomat!«
    Fandorin-san: »Nicht doch, Kommissar, was ist eine halbe Million Francs gegen die Schätze des Bagdassar?«
    »Meine Herrschaften, Schluß mit dem Streit!« rief die verhaßte
Madame Kleber launisch. »Ich wäre fast ermordet worden, und Sie reden schon wieder von dieser Geschichte. Während Sie in dem alten Verbrechen kramen, Kommissar, wäre ums Haar ein neues passiert, ohne daß Sie es merken.«
    Diese Frau kann es einfach nicht ertragen, wenn sie nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Nach dem gestrigen Vorfall bemühe ich mich, sie möglichst wenig anzusehen – hätte ich doch größte Lust, ihr den Mittelfinger in das pulsierende blaue Äderchen an ihrem weißen Hals zu stoßen. Ein Stoß würde völlig ausreichen, diese Viper zu töten. Aber das gehört natürlich in den Bereich der bösen Gedanken, die ein willensstarker Mensch unterdrücken muß. Nun sind sie in das Tagebuch eingegangen, und der Haß hat ein wenig nachgelassen.
    Der Kommissar wies Madame Kleber zurecht. »Schweigen Sie, gnädige Frau«, sagte er streng. »Wir wollen hören, was sich der Herr Diplomat noch ausgedacht hat.«
    Fandorin-san: »Die ganze Geschichte macht nur dann einen Sinn, wenn das geraubte Tuch einen besonderen Wert hat. Erstens. Nach den Worten des Professors ist der Wert nicht so groß, also geht es nicht um das Stück Seide, sondern um etwas anderes. Zweitens. Wie wir wissen, hat das Tuch mit dem letzten Willen von Radscha Bagdassar zu tun, dem Besitzer der Schätze von Brahmapur. Drittens. Sagen Sie, Professor, war der Radscha ein treuer Diener des Propheten?«
    Sweetchild-san (nach kurzem Überlegen): »Das kann ich nicht genau sagen. Moscheen hat er nicht gebaut, Allah hat er in meinem Beisein nicht erwähnt. Der Radscha kleidete sich gern europäisch, rauchte Kuba-Zigarren, las französische Romane. Ach ja, zum Mittagessen trank er Kognak! Mithin hat er die religiösen Verbote nicht allzu ernst genommen.«
    Fandorin-san: »Also viertens: Der nicht allzu fromme Bagdassar hinterläßt dem Sohn als letzte Gabe nicht irgendwas,
sondern einen Koran, in ein Tuch gewickelt. Ich vermute, gerade das Tuch war der wichtigste Teil der Sendung. Der Koran diente nur als Vorwand. Vielleicht aber enthielten die Randnotizen von der Hand Bagdassars Instruktionen, wie der Schatz mit Hilfe des Tuches zu finden sei.«
    Sweetchild-san: »Warum unbedingt mit Hilfe des Tuches? Der Radscha konnte doch sein Geheimnis in den Marginalien verstecken.«
    Fandorin-san: »Er konnte, tat es aber nicht. Warum nicht? Ich verweise Sie auf mein Argument Nummer eins: Wenn das Tuch nicht einen ganz außerordentlichen Wert hätte, wären seinetwegen kaum zehn Menschen ermordet worden. Das Tuch ist der Schlüssel zu den 500 Millionen Rubeln oder, wenn Ihnen das lieber ist, zu den 50 Millionen Pfund, was auf dasselbe hinausläuft. Meines Wissens hat es in der Geschichte der Menschheit noch keinen Schatz dieser Größenordnung gegeben. Übrigens muß ich Sie warnen, Kommissar: Wenn Sie recht haben und der Mörder tatsächlich an Bord der ›Leviathan‹ ist, sind weitere Opfer möglich. Was um so wahrscheinlicher wird, je näher Sie Ihrem Ziel kommen. Gar zu hoch ist der Einsatz und gar zu hoch der Preis, der für den Schlüssel zum Geheimnis gezahlt worden ist.«
    Nach diesen Worten herrschte Totenstille. Die Logik von Fandorin-san schien unwiderleglich, und ich bin sicher, daß es allen kalt den Rücken hinunterlief. Außer einem Menschen.
    Als erster kam der Kommissar wieder zu sich. Er sagte mit nervösem Lachen: »Sie haben eine blühende Phantasie, Monsieur Fandorin. Was jedoch die Gefahr betrifft, so haben Sie recht. Doch Sie, meine Herrschaften, brauchen nicht zu zittern. Wenn einer in Gefahr ist, dann der alte Coche, und das weiß er sehr gut. So ist nun mal mein Beruf. Aber mit bloßen Händen
kriegt mich keiner.« Er ließ den Blick drohend über uns alle gleiten, und es war wie eine Forderung

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