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Mord auf der Leviathan

Mord auf der Leviathan

Titel: Mord auf der Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Rote-Bete-Salat (red beet) bestellt hatte, brachte mir der Kellner halbrohes blutiges Rindfleisch. Er hatte red beef verstanden. Ich schob mit der Gabel das bluttriefende Fleisch hin und her und blickte mit heimlichem Neid zu dem Ersten Offizier, der ein sehr appetitliches Gemüseragout mit magerem Hühnerfleisch verzehrte.
    Was war noch?
    Nichts Besonderes. Kleber-san klagte wie immer über Migräne, aß aber mit großem Appetit. Sie sieht blühend aus, klassisches Beispiel für eine gut vertragene Schwangerschaft. Ich bin überzeugt: Wenn die Zeit heran ist, wird das Kind aus ihr herausspringen wie der Pfropfen aus einer Flasche französischen Schaumwein.
    Gesprochen wurde über die Hitze, über die morgige Ankunft in Aden, über Edelsteine. Fandorin-san und ich verglichen die Vorzüge der japanischen und der englischen Gymnastik. Ich konnte mir erlauben, Nachsicht zu üben, denn auf diesem Gebiet liegt die Überlegenheit Asiens gegenüber dem Westen auf der Hand. Der Unterschied besteht darin, daß ihre physischen Übungen Sport, Spiel sind, die unsrigen dagegen ein Weg zur
geistigen Selbstvervollkommnung. Ja, zur geistigen, denn die physische Vollkommenheit ist bedeutungslos und folgt der geistigen wie ein Eisenbahnzug der Lokomotive. Ich muß sagen, daß der Russe sich sehr für Sport interessiert und sogar von den Kampfschulen Japans und Chinas gehört hat. Heute morgen habe ich früher als sonst auf dem Bootsdeck meditiert und sah dort Fandorin-san. Wir wechselten nur eine Verbeugung, kamen aber nicht ins Gespräch, denn wir waren beschäftigt: Ich wusch meine Seele in dem Licht des neuen Tages, und er, mit einem Sporttrikot bekleidet, machte Kniebeugen und stemmte eine Zeitlang Hanteln, die sehr schwer aussahen.
    Das gemeinsame Interesse an der Gymnastik machte unser abendliches Gespräch ungezwungen, und ich fühlte mich lockerer als gewöhnlich. Ich erzählte dem Russen von Jiu-Jitsu. Er hörte aufmerksam zu.
    Etwa um halb neun (die genaue Zeit habe ich mir nicht gemerkt) klagte Kleber-san, die schon ihren Tee getrunken und zwei Stück Kuchen gegessen hatte, über Schwindel. Ich sagte ihr, das komme bei Schwangeren vor, wenn sie zu viel äßen. Aus irgendwelchen Gründen war sie darüber gekränkt, und mir ging auf, daß ich das nicht hätte sagen dürfen. Wie oft hatte ich mir geschworen, den Mund zu halten. Weise Erzieher hatten mich schließlich gelehrt: Wenn du in fremder Gesellschaft bist, sitze da, höre zu, lächle freundlich und nicke von Zeit zu Zeit – dann wirst du als wohlerzogener Mensch gelten und auf jeden Fall nichts Dummes sagen. Schöner »Offizier«, der anderen medizinische Ratschläge aufdrängt!
    Regnier-san sprang sogleich auf und erbot sich, die Dame zu ihrer Kabine zu begleiten. Dieser Mann ist überhaupt sehr zuvorkommend, besonders zu Kleber-san. Er ist der einzige, der ihrer ewigen Launen noch nicht überdrüssig ist. Er wahrt die Ehre seiner Uniform.
    Nachdem sie gegangen waren, wechselten die Männer in die Sessel und rauchten. Der italienische Schiffsarzt und seine englische Frau begaben sich zu einem Patienten, und ich versuchte, dem Kellner klarzumachen, daß ich mein Frühstücksomelett ohne Bacon und ohne Schinken wünsche. Das hätten sie in den vielen Tagen schon lernen können.
    Es waren wohl zwei Minuten vergangen, da hörten wir plötzlich einen gellenden Frauenschrei.
    Erstens begriff ich nicht gleich, daß es Kleber-san war, die da schrie. Zweitens ging mir nicht auf, daß das verzweifelte »Oskur! Oskur!« nichts anderes bedeutete als »Au secours! Au secours!« 1 Aber das rechtfertigt nicht mein Verhalten. Ich habe mich schmählich benommen, unwürdig eines Samurai!
    Aber der Reihe nach.
    Als erster stürzte Fandorin-san zur Tür, gefolgt von dem Polizeikommissar, Milford-Stokes-san und Sweetchild-san, ich aber blieb wie angewurzelt stehen. Sie alle glauben jetzt gewiß, daß in der japanischen Armee klägliche Feiglinge dienen! In Wirklichkeit habe ich nur nicht gleich begriffen, was vorging.
    Als ich es endlich begriffen hatte, war es zu spät – ich erreichte den Schauplatz als Letzter, sogar noch nach Stomp-san.
    Die Kabine von Kleber-san liegt ganz in der Nähe des Salons, sie ist die fünfte rechts im Korridor.
    Hinter den mir Zuvorgekommenen stehend, sah ich ein unwahrscheinliches Bild. Die Kabinentür stand sperrangelweit offen. Kleber-san lag stöhnend auf dem Fußboden, über ihr etwas Schwarzes, Blankes, Unbewegliches. Ich erkannte nicht gleich, daß

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