Mord hat keine Tränen: Ein Fall für Jessica Campbell (German Edition)
musterte den Burschen von Kopf bis Fuß und schätzte ihn auf ungefähr zwanzig. Seine sonnenverbrannte Haut ließ darauf schließen, dass er die meiste Zeit im Freien verbrachte. Seine Haare waren lang und lockig über dem fettigen Kragen der Lederjacke. Beides, Haare und Jacke, hatten dringend eine Wäsche nötig. In gewisser Hinsicht sah er recht gut aus, doch das würde nicht so bleiben. Er begegnete ihrem Blick herausfordernd. Ein echter Schaumschläger, dachte sie.
»Und Sie sind?«, fragte sie schroff.
»Gary Colley.« Trotz des Glitzerns in seinen dunklen Augen klang seine Stimme misstrauisch, und sein Verhalten verriet Vorsicht.
»Dieser Gentleman hier ...«, sagte der Constable mit einiger Ironie und einem Nicken in Richtung von Gary Colley, »... dieser Gentleman wohnt ein paar Hundert Meter weiter diese Straße hinunter. Es gibt dort wohl einen bäuerlichen Kleinbetrieb, der seinem Vater gehört. Der Gentleman wohnt dort zusammen mit seiner Familie.«
Gary funkelte den Constable böse an, doch dann wandte er sich an Jess, während er die Hand aus der Tasche nahm und auf den Constable deutete. »Er will mir nicht verraten, was hier vorgeht!«
»Das ist richtig«, antwortete Jess. »Und ich werde es ebenfalls nicht. Sie werden sich schon noch ein Weilchen gedulden müssen, Sir. Und bis es so weit ist, würde ich Ihnen gerne eine Reihe von Fragen stellen.«
Doch Gary war noch längst nicht fertig mit seinen eigenen Fragen. »Sie sind doch wohl nicht hergekommen, um den alten Monty zu verhaften?«, wollte er wissen.
»Nein, selbstverständlich nicht. Waren Sie heute schon einmal hier?«
»Nein«, erwiderte er prompt.
»Und wo waren Sie den ganzen Tag über?«
»Zu Hause. Ich habe mich um das Vieh gekümmert und verschiedene Arbeiten auf dem Hof erledigt. Es ist ein kleiner Hof, wie der Constable bereits sagte. Hauptsächlich Schweine.« Er grinste.
Offensichtlich gehörte er zu der Sorte, die Polizeibeamte normalerweise als »Schweine« bezeichnete, und offensichtlich hielt er sich für witzig. Jess fragte sich, ob er vielleicht aktenkundig war.
»Was hat Sie jetzt hergeführt?«, wollte sie von ihm wissen.
»Ich war auf dem Weg in die Stadt. Ich dachte, ich genehmige mir ein frühes Pint oder zwei.«
Jess sah auf ihre Armbanduhr. »Ein sehr frühes Pint«, bemerkte sie. »Es ist erst zehn vor fünf.«
»Ich brauche eine halbe Stunde bis zum Pub«, antwortete Gary einfach. Er starrte sie an. Sein Gesicht war ernst, doch seine dunklen Augen lachten belustigt.
»Wer wohnt noch auf dem Hof außer Ihnen und Ihrem Vater?«, fragte sie.
»Meine Mutter«, antwortete er. »Meine Schwester, ihr Kind und meine Großmutter.«
Vier Generationen Colleys unter einem Dach also. Jess kannte die Sorte. Eine Familie wie die Colleys war in der gesamten Umgebung bekannt und wurde von allen mit Misstrauen bedacht. Sie selbst kannten ihrerseits jeden und waren über alles informiert, was vorging. Keine Halsabschneider, aber auch nicht ganz ehrlich. Wilddiebe vielleicht, oder verwickelt in illegale Hundekämpfe, dergleichen Dinge. Vielleicht lagerten sie sogar Diebesgut in ihrer Scheune und besserten ihr Einkommen auf, indem sie größeren, professionelleren Halsabschneidern kleine Gefälligkeiten erwiesen. Gut möglich, dass ein Blick hinter die Kulissen angesagt war - wenn ihnen ein plausibler Grund einfiel für einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss, hieß das.
»Wie alt ist das Kind Ihrer Schwester?«, wollte sie wissen. Der Verdacht der Verwahrlosung Minderjähriger bot vielleicht einen Ansatzpunkt, die Colleys genauer in Augenschein zu nehmen.
Gary dachte kurz nach, bevor er antwortete. »Fast vier.«
»Und der Vater?«
Gary grinste. »Sind Sie ein Detective?«
»In der Tat«, antwortete sie.
»Dann finden Sie doch heraus, wer Katies Vater ist. Von uns weiß es nämlich niemand.«
Jess atmete tief ein. »Haben Sie heute fremde Fahrzeuge auf dieser Straße gesehen?«
»Hier fahren nicht viele Fahrzeuge«, antwortete Gary. »Wenn mal eins kommt, dann ist es meistens auf dem Hin- oder Rückweg von Sneddon's Farm. Die liegt ungefähr einen Kilometer weiter.« Er zeigte die Straße hinunter. »Ich habe keine fremden Wagen gesehen, nein. Wenn je ein Fremder hier langfährt, dann hat er sich mit großer Wahrscheinlichkeit verfahren.«
»Sind Sie sicher?«
Er nickte selbstsicher. »Ich hätte es bemerkt. Normalerweise halten sie an und fragen nach dem Weg. Ich schicke sie zur Hauptstraße zurück. Man
Weitere Kostenlose Bücher