Mord hat keine Tränen: Ein Fall für Jessica Campbell (German Edition)
durcheinander und sah nach oben. Über ihren Köpfen starrten hasserfüllte Gesichter aus einer Fensteröffnung, während eine Frauengestalt mit langen blonden Haaren dem Boden entgegenstürzte. Sie hatte die Arme weit ausgebreitet in einer Mischung aus Flehen, Verzweiflung und dem vergeblichen Bemühen, sich zu retten. Unten am Boden saßen zwei Hunde und blickten erwartungsvoll nach oben.
Gegenüber, auf der anderen Seite des Treppenabsatzes, gab es ein zweites Fenster. Es war früher einmal das passende Gegenstück zum ersten gewesen, mit einer weiteren Bildergeschichte aus der Bibel, doch es hatte anscheinend einen Unfall gegeben, und so war es teilweise mit derben, ungehobelten Brettern vernagelt. Lediglich ein paar wenige bunte Glasscheiben am oberen Ende waren noch zu sehen.
»Was soll das Ihrer Meinung nach darstellen?«, fragte Morton mit einem Kopfnicken in Richtung des intakten Fensters.
»Den Tod von Isebel«, antwortete Jess ohne zu überlegen. »Ich habe schon häufiger Bilder mit diesem Thema gesehen, und unser Religionslehrer damals in der Schule hatte ein Faible für die Geschichte. Isebel war die Frau von König Ahab, und unter ihrem schlechten Einfluss beging er alle möglichen Verbrechen, bis er schließlich in einer Schlacht von einem verirrten Pfeil getötet wurde.«
»Wie dieser andere König, dieser Harold, bei der Schlacht von Hastings«, sagte Morton, der sich nicht ausstechen lassen wollte, was Allgemeinbildung betraf.
»Ganz genau. Als die Menschen die Nachricht von seinem Tod erhielten, nahmen sie Rache an der verschlagenen Isebel und warfen sie aus dem Fenster des Palasts, wie man hier sehen kann.« Sie deutete auf das Fenster. »Die wilden Hunde unten am Boden haben anschließend ihren Leichnam aufgefressen.«
»Wie nett«, bemerkte Morton. »Genau die Art von Thema, die man in seinem Haus haben will. Wer bei gesundem Verstand möchte denn jeden Morgen aufstehen und auf dem Weg zum Frühstück an so einem Bild vorbeilaufen?«
»Die alten Viktorianer liebten Geschichten mit einem starken moralischen Aspekt«, erwiderte Jess. »Es hat die Menschen ermutigt, sich anständig zu verhalten. Das Richtige zu tun. Für sie waren derartige Bilder erbauend.«
Morton wollte ihrer Argumentation nicht ohne weiteres folgen. »Es ist ein Mord, der hier dargestellt wird, und daran kann ich überhaupt nichts Erbauendes finden. Nichts außer Blut und Eingeweiden, wie bei jedem anderen Mord auch. Und wenn ich mir diese blonde Frau so ansehe: gemischt mit einer ordentlichen Portion Sex. Diese Art von Geschichten hat Menschen schon immer fasziniert, und nicht, weil sie sich davon besser fühlen, oh nein. Sondern weil es ihnen einen Nervenkitzel verschafft.«
Der obere Treppenabsatz bildete den Querstrich eines großen H. Zu beiden Seiten verliefen Korridore vom vorderen Teil des Hauses bis nach hinten.
»Ich nehme diese Seite, Sie die andere«, schlug Jess vor.
Morton bedachte das Bild vom Todessturz der Isebel mit einem weiteren missmutigen Blick, bevor er sich umwandte und in den Korridor zur linken Seite trottete, um die Zimmer zu durchkämmen.
Jess tat es ihm auf der rechten Seite gleich. Die Türen öffneten sich zu einer deprimierenden Serie verlassener Zimmer mit Staubschutzlaken über dem nicht mehr benutzten Mobiliar und den Betten. Was nicht abgedeckt war, lag unter einer dicken Staubschicht. Feuchtigkeit war bis in die entferntesten Winkel vorgedrungen. Einstmals kostbare Vorhänge hingen in Fetzen an den Gardinenstangen vor den Fenstern. In den Feuerstellen der Kamine lagen die Überreste von Dohlennestern. In einem Badezimmer waren die Wasserhähne verrostet, und eine riesige viktorianische Eisenbadewanne auf großen Klauenfüßen enthielt einen Teil der herabgefallenen Decke.
Sie drehte um in der Absicht, die Zimmer im hinteren Bereich zu kontrollieren. Sie öffnete die erste Tür und fand einen Wäscheraum vor. Vergilbte Laken stapelten sich in einem großen Schrank. In diesem Moment hörte sie Morton laut rufen.
Er hatte auf seiner Seite ebenfalls mit der Untersuchung der hinteren Zimmer angefangen. Er stand am Ende des Gangs in einer offenen Tür und wartete. Jess eilte zu ihm.
»Was halten Sie davon?«, fragte er und deutete in das Zimmer.
Jess sog überrascht die Luft ein, dann betrat sie das Zimmer und sah sich um.
Der Raum war in krassem Gegensatz zum Rest des Hauses offensichtlich erst vor kurzer Zeit gesäubert worden. Nirgendwo war auch nur ein Staubkorn zu sehen.
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