Mord hat keine Tränen: Ein Fall für Jessica Campbell (German Edition)
gesetzt hatte. »Da ist noch eine Sache, die Ihnen vielleicht nicht klar ist. Aber ich muss Sie warnen.«
»Und das wäre?«, fragte Monty über den Rand seines Glases hinweg.
»Es wäre durchaus möglich, dass Lionel noch am Leben ist. Er wäre jünger als Sie, mindestens elf, eher zwölf oder dreizehn Jahre. Leider scheint er ein Hallodri geworden zu sein - er hat seine Frau und sein Kind sitzen lassen und ist verschwunden. Möglich, dass er sich danach noch viele Jahre lang versteckt gehalten hat, aus Angst, gefunden zu werden. Vielleicht hat er das Land verlassen oder ist zumindest in eine ganz andere Ecke gezogen, Hunderte von Kilometern entfernt. Möglicherweise hat er sogar seinen Namen abgelegt. Aber wie das so ist - nach all den Jahren glaubt er vielleicht, dass er nichts mehr zu befürchten hat. Jay hat Sie aufgespürt, Monty, und wer weiß? Vielleicht taucht eines Tages Lionel auf. Ich möchte nicht, dass Sie sich deswegen Sorgen machen, aber Sie sollten darauf vorbereitet sein. Ich fürchte, die Medien werden diesen Fall in aller Breite ausschlachten. Die ganze Geschichte wird veröffentlicht. Wo auch immer Lionel jetzt sein mag, wie auch immer er heute heißt - möglich, dass er in der Zeitung darüber liest.«
Monty kratzte sich hinter dem Ohr. »Vermutlich haben Sie recht. Nun, es lässt sich nicht ändern. Aber es wird ihm nichts nützen, so oder so.« Er sah Jess spitzbübisch an. »Er kommt viel zu spät, wenn er glaubt, er könnte Balaclava in die Finger kriegen.« Er wurde wieder ernst und schüttelte den Kopf. »Nein, das würde ich nicht zulassen«, wiederholte er. Er lächelte traurig. »Eigenartig. Als ich ein kleiner Junge war, hätte ich mir einen Bruder gewünscht. Aber heute? Ich kann keine Komplikationen mehr gebrauchen.«
Sein Gesicht hellte sich auf. »Verstehen Sie, der Bursche hat nie versucht, mich zu finden. Er hat vielleicht schon lange den Löffel abgegeben. Und falls er noch lebt, könnte er sich überall in der Welt herumtreiben. Vielleicht weiß er gar nicht, dass er in Wirklichkeit ein Bickerstaffe ist. Umso besser für ihn, wage ich zu behaupten. Wäre auch besser gewesen für seinen Sohn, wenn er nichts davon gewusst hätte, der arme Teufel. Und wenn dieser Lionel die Zeitungen liest, hat er vielleicht mehr Angst davor, dass ich ihn finden könnte, als umgekehrt. Er hat eine Frau und ein Kind im Stich gelassen, haben Sie gesagt. Vermutlich ist er immer noch untergetaucht.«
Monty beschrieb eine ausholende Handbewegung. »Nächstes Jahr um diese Zeit hat dieser Hemmings alles abgerissen. Kein Stein bleibt mehr stehen. Und damit ist es dann vorbei - endlich.« Seine Stimme wurde zu einem Flüstern. »Ja, endlich, endlich ist das alles vorbei!«
Und damit hat er recht, dachte Jess. Die Entdeckungen von Jay Taylor hatten unausweichlich zu seinem Tod geführt. Lionel hatte sein eigenes schulderfülltes Geheimnis zu bewahren, wo auch immer er gerade war. Vielleicht wusste er nicht einmal, dass seine sitzengelassene Frau Deirdre längst tot war. Oder er hatte Angst vor ihrer Schwester, der ätzenden Miss Bryant.
»Noch eine Sache, Monty«, begann Jess.
»Was denn?«, fragte Monty, indem er Jess misstrauisch beäugte. »Wollen Sie mir etwa noch mehr uneheliche Verwandtschaft unterschieben? Ich ertrage keinen einzigen mehr!«
»Ich dachte nicht an Ihre Familie. Ich wollte über Seb Pascal und Rosie Sneddon sprechen, die das Zimmer im ersten Stock ohne Ihr Wissen und ohne Ihr Einverständnis benutzt haben ...«
»Ihr Superintendent Carter hat mich darüber informiert«, sagte Monty ungehalten. »Es spielt doch wohl keine verdammte Rolle mehr, oder? Sie werden es nicht wieder tun, und die sich daraus ergebenden Probleme sind ihre, nicht meine! Das hat alles überhaupt nichts mit mir zu tun. Die Polizei hat Pete Sneddon das Gewehr abgenommen, hoffe ich doch? Dieser verrückte Spinner - was hat ihn denn geritten, zur Tankstelle von Pascal zu fahren und um sich zu schießen?«
»Wir haben seine Waffe eingezogen, und er wird sie nicht zurückbekommen. Seine Lizenz wurde für ungültig erklärt. Nichtsdestotrotz halten wir bis zu seiner Verhandlung ein wachsames Auge auf ihn. Ich will ja nicht darauf herumreiten, Monty, aber Pascal und Mrs. Sneddon haben Hausfriedensbruch begangen. Sie sollten sich überlegen, ob Sie nicht eine Zivilklage gegen die beiden anstrengen ...«
»Nein, bestimmt nicht!«, schnappte Monty. »Ich bin nur froh, dass ich den beiden nie begegnet bin! Meinen
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