Mord im Bergwald
lag ganz eindeutig ein Finger. Irmi schwieg, sah Vitus nur fragend an. Dieser dirigierte sie zum nächsten Fundort. Dort lag ein Ohr vor ihr auf dem Boden. Ohr und Finger sahen nicht mehr taufrisch aus und schienen schon einige Tage hier zu liegen. Aber das mussten Fachleute entscheiden.
Irmi prüfte ihr Handy, es hatte Netz, und sie rief ihren Kollegen Bernd Hase an.
»Hasibärchen, mach dich auf mit deinen Leuten. Zur Fischbachalm geht's. Oberhalb vom schönen Krün. Hier hat einer seinen – ich würde mal sagen – Mittelfinger und sein Ohr verloren.«
Seine Reaktion fiel wie erwartet aus: Er empfand jeden Einsatz als persönliche Beleidigung. Zwar war er ein akkurater Arbeiter, sobald er vor Ort war, aber bis dahin hasste er seinen Job. Ein bisschen schizophren, aber in ihrem Metier war das vermutlich noch eine milde Ausprägung des Berufswahnsinns. Irmi gab sich Mühe, fröhlich zu klingen.
»Hilft aber nix, mein Hasi, vor allem solltet ihr euch mal genauer umsehen, ob da noch mehr Teile herumliegen. Ist ja eine Zumutung für unbescholtene Wanderer, die über so was stolpern können.« Ihr war heute so zynisch zumute. »Ich lass alles in situ, damit du dir ein Bild machen kannst. Du triffst uns auf der Alm.«
Dann wandte sie sich wieder an Vitus und Iris. »Ihnen ist nichts aufgefallen, nehme ich an?«
»Nein, zumal das Geschehen wohl schon einige Tage zurückliegt, oder?«, meinte Iris von Gstalden.
Sie hatte »Geschehen« gesagt, nicht »Verbrechen«. Die Frau war ein Profi. Schließlich musste es ja kein Verbrechen sein.
Sie schwiegen alle drei eine Weile, bis Vitus irgendwann sagte: »Schreiner schneiden sich gerne amoi de Finger ab.«
»Seltener die Ohren«, kam es von Iris.
»Ja, i woaß, und wenns ihr mi froagts ...« Vitus machte eine Kunstpause.
»Ja, ich frag Sie, Vitus«, entgegnete Irmi.
»Den ham d' Viecher og'fressn, und der Rest kann sonst wo umeinanderflackn.«
Der Mann hatte recht. Die ausgefransten Ränder, der Zustand der makabren Fundstücke – da hatten sich Fleischfresser gütlich getan, eine nette Abwechslung auf dem Speiseplan. Aber wo sollten sie dann suchen? Das war ja uferlos – und eklig.
»Gehen wir zurück«, sagte Irmi.
Vitus stürmte voran. Als echter Bergmensch verfügte er über eine perfekte Abwärtsgehtechnik: federnd, aus der Hüfte. Am Abwärtsgehen erkannte man diejenigen, die schon Tausende von Höhenmetern hinter sich hatten.
Die beiden Frauen blieben etwas zurück.
»Meine Knie sind nicht die besten«, erklärte Iris von Gstalden.
»Meine auch nicht«, meinte Irmi lächelnd.
Schweigend gingen sie weiter, bis Iris plötzlich verlauten ließ: »Bei Entführungen kommt so was doch öfter vor. Entführer schneiden gerne mal Körperteile ab und untermauern damit ihre Forderungen.«
Irmi sah Iris überrascht an. Die Frau Staatsanwältin a. D. hatte recht. Überhaupt gefiel ihr diese lakonische Dame ausnehmend gut.
Auf der Alm saßen nun alle brav auf den Holzbänken, Kathi hatte den Haufen gebändigt. Sailer und Andrea hielten Wandersleute und Mountainbiker fern. Der Schutzwaldtrupp wirkte ausgelaugt, sogar Orlowski schwieg.
»Ich nehme mal nicht an, dass von denen jemand was damit zu tun hat, oder?«, meinte Kathi leise zu Irmi.
»Ich auch nicht, zumal Vitus Weingand die Theorie aufgestellt hat, es könne sich um Tierfraß handeln«, sagte Irmi.
»Hast du ... hast du das Zeugs ... äh ... die Teile gesehen?«, fragte Kathi.
»Ja, und Tierfraß scheint durchaus plausibel.«
Sie schwiegen eine Weile.
»Aber dann könnte der Rest ...« Kathi brach ab.
»Ja, genau, der Rest könnte überall sein.« Irmi atmete tief durch. »Iris von Gstalden, diese Staatsanwältin a. D., hatte auch eine interessante Idee. Bei Entführungen würden doch gern mal Körperteile entfernt, um den Forderungen Nachdruck zu verleihen, meinte sie.«
Kathi überlegte. »Aber verschicken Entführer so was dann nicht mit der Post? Oder mit UPS oder Hermes?«
Irgendwie versuchte Kathi wohl witzig zu sein, schräger Humor oder Zynismus waren nun mal probate Mittel gegen Irrsinn. Und zudem hatte Kathi recht. Einem Entführer nützten abgetrennte Körperteile nichts, wenn sie im Schutzwald rumlagen. Alles war ziemlich undurchsichtig. Es blieb ihnen nur abzuwarten, was Hasibärchen beizutragen hatte.
Wenig später waren Bernd Hase und seine Leute vor Ort, der gequälte Gesichtsausdruck des Kollegen sprach Bände. Während die Spusi bergwärts marschierte, wandte sich Irmi an
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