Mord Im Kloster
den Wänden links und rechts je zwei Reihen sorgfältig gerichteter Betten, er legte sich flach auf den Bauch und blickte unter jedes. Giacomo war nicht zu sehen. An der Stirnseite des kühlen Raumes mit der flachen Ebenholzdecke blieb er stehen, sah zurück und überlegte. Wer konnte der Eindringling gewesen sein? Müßig, darüber zu spekulieren, denn genau genommen kam jeder der Brüder in Frage.
Von der Existenz des Briefes wusste allerdings nur der Präzeptor, der jeden Postverkehr kontrollierte. Neville musste zu ihm gehen und die Sache aufdecken. Aber eine Hitzewelle überflutete den Magister, bei dem Gedanken – konnte er dem Präzeptor angesichts der Sachlage überhaupt trauen? Wenn sein Vorgesetzter sah, dass Neville seine Sorgfaltspflicht verletzt hatte – also, was war zu tun?
Er musste auf die Suche gehen. Von der angemessenen Geheimhaltung dieses Briefes hing wohl einiges ab. Jedenfalls hatte es sein Überbringer, der Bote des Abtes von St. Albans, behauptet.
Im inneren Tempelbezirk blieb es ruhig. Kein Laut störte den Frieden der Nachmittagszeit. Neville überfiel ein Gefühl völliger Einsamkeit, wie er es seit seiner Kindheit im Lateran nicht mehr gehabt hatte. Er war allein. Es war der Beginn eines Verhängnisses… Aber nein, Unsinn!, schalt er sich, das machten nur diese ungewöhnlich frühe Hitze auf den Mauern und diese lähmende Stille in der Ruhezeit des Nachmittags. Aber aus dem Eindruck der Leere heraus, in die er haltlos hinunterzufallen drohte, entschloss er sich, doch den Präzeptor aufzusuchen. Der Brief war geraubt! Er musste diese befremdliche Nachricht einfach an eine Instanz weitergeben. Dann war er zwar die Verantwortung nicht los, aber er teilte sie mit jemandem.
Mit langsamen Schritten betrat er den vom Wohntrakt der Brüder getrennten Hof der Tempelverwaltung. Vorsichtig klopfte er an die Tür zum Arbeitszimmer des Präzeptors. Von drinnen ertönte eine gedämpfte Stimme, die ihn aufforderte einzutreten. Er betrat das dunkle Zimmer.
Der Präzeptor hatte die Angewohnheit, sämtliche Vorhänge zuzuziehen. Seine schwachen Augen vertrugen keine Helligkeit. Neville versuchte, sich im Halbdunkel zu orientieren. Der Präzeptor saß auf dem Stuhl am Fenster, mit dem Rücken zur kalten Wand, und sah ihm angestrengt entgegen. Sein lang gezogenes Gesicht mit den harten Konturen schimmerte bleich. Er trug wie immer das blutend-weiße Ornat des Tempels mit dem roten Tatzenkreuz auf den Schultern.
»Nun, mein Sohn?«
»Präzeptor – ich habe ein Anliegen.«
»Davon gehe ich aus, Magister.«
Lag Spott in seiner Stimme? Neville riss sich zusammen. »Es gilt, etwas Entsetzliches zu melden… einen Raub. Der Brief des Abtes Thomas von St. Albans, der heute Morgen kam, ist verschwunden. Ein Einbrecher…«
Der Präzeptor hob die Hand. »Ich habe nichts gehört! Ich will auch nichts hören! Das kann nicht sein!«
»Und doch ist es so.«
»Der Brief wurde Euch durch den Boten anvertraut! Er ist geraubt? Noch niemals ist im Tempel etwas abhanden gekommen. Wenn das dennoch wahr ist, dann beschafft ihn wieder, und wenn Ihr ihn habt, dürft Ihr wiederkommen!«
Hatte Neville etwas anderes erwartet? Er machte Anstalten, noch etwas zu sagen, er wollte erklären. Aber der Präzeptor sagte scharf: »Beschafft ihn wieder. Geht!«
Neville antwortete nicht, er nickte nur stumm und verließ den Raum, allerdings nicht, ohne die Tür lauter zuzuschlagen, als es statthaft gewesen wäre. Draußen stand er einen Moment lang ratlos. Was sollte er jetzt tun? Zunächst einmal musste er in sein Zimmer zurückgehen, nach Spuren suchen, vielleicht war der Zwerg inzwischen wieder aufgetaucht.
Und wenn nicht…
Giacomo blieb verschwunden, das entsprach ganz und gar nicht seinen Marotten. Im Gegenteil ging er dem Magister oft durch seine ständige, listige Gegenwart auf die Nerven. Im Tempel gab es natürlich viele Möglichkeiten, sich zu verstecken. Aber warum versteckte er sich?
Neville versuchte, die Situation zu rekonstruieren. Es gab nur eine Tür zum Schreibzimmer, der Eindringling war über den Gang im ersten Stockwerk gekommen, an dem zu beiden Seiten die Klausen der anderen Brüder lagen. Da in den Konventbereich keine dienenden Brüder hineinkamen, musste sein ungebetener Besucher aus den Reihen der Brüder sein. Ein Mitbruder! Oder hatte Giacomo seine ungewaschenen Finger im Spiel? Nein, entschied Neville, der Gnom war ihm ergeben und nach seinem Verhör durch die iberische Inquisition auch viel
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