Mord im Nord
halb leer geräumtes Bücherregal.
Stahl erkannte, dass der Moder der Folianten die Duftnote des Potpourris war,
die ihn an Rom erinnerte. Er selbst hatte die alten Schinken nie gemocht. Sie waren
ihm zu schwerfällig. Er war ein Mann der digitalen Welt. Er mochte auch die
Folklore der Gardisten nicht. Wie war er froh gewesen, als er endlich nicht
mehr mit der Hellebarde und dem blau-gelben Gewand Wache schieben und
exerzieren musste.
Es lag ihm fern, eines der Bücher anzufassen. Sie erinnerten ihn zu sehr
an die drei Jahre, in denen er in der Bibliothek des Vatikans aushelfen musste.
Zuerst hielt er es für reine Zeitverschwendung. Nicht nur, dass er die Bücher
schleppen musste – der Camerlengo forderte von Stahl auch, das ein oder
andere davon zu lesen und mündlich zusammenzufassen. Aber auch damit nicht
genug: Der Kämmerer selbst zitierte ihn alle zwei Wochen zu sich und forderte
ihn auf, Stellung zu beziehen. Mal zu Augustinus, dann zu Thomas Hobbes, das
nächste Mal zu Ignatius von Loyola, Franz von Assisi oder Immanuel Kant. Und
wenn es der Camerlengo ganz lustig meinte, konnte er in einer Sitzung ansatzlos
von Mussolini zu Sergio Leone und von Brecht zu Max Frisch springen.
Stahl spürte, wie ihm allein bei dem Gedanken an die alten Verhöre der
Schweiss auf die Stirn stieg. Erst später begriff er, wozu diese
«Inquisitorischen Sitzungen», wie sie der Kämmerer scherzhaft zu nennen
pflegte, nützlich waren. Stahl erhielt nicht nur ein Studium in Philosophie,
Theologie und Literatur auf zweitem Bildungsweg, er lernte auch, Wissen zu
verknüpfen und schlagfertig damit rhetorische Waffen zu schmieden. Man hatte
ihn nicht nur militärisch geschult, sondern auch seinen Geist geschärft. Und
das war die Voraussetzung, dass er sich nun als Spezialagent des Vatikans in
feinere Stoffe hüllen durfte.
Er stieg über einen mit Büchern gefüllten Karton und ging in den
angrenzenden Salon. Auch hier knipste er das Licht an und war überrascht, eine
bewusstlose Frau auf dem Ardakan-Teppich liegen zu sehen.
Palm säbelte mit einem stumpfen Messer durch die Kruste des
Cordon bleu, spiesste die eroberte Ecke auf die Gabel und zögerte, ehe er sie
sich in den Mund schob. Er witterte Salmonellen, so wie er den noch immer
lauernden Nutten Filzläuse der dritten Generation unterstellte. Immerhin liess
es sich kauen. Wenn es erst einmal drin war, war es egal. Sein Handy fiepte.
Stahl.
«Ja?»
Während er dem Anrufer zuhörte, bestellte er per Handzeichen eine Stange.
Die Kellnerin mit dem violetten Auge tat geschäftig.
«Verstehe. Polizei? Wieso Polizei? … Wie du willst. Aber mich hältst
du da raus … nein, ich komme nicht vorbei. Ich brauche keine Fragen von
der Polizei … Wir sehen uns morgen zum Frühstück … Nein, nicht im
‹Rothaus›. Auf keinen Fall. Mir reicht die Langstrasse einmal in fünf Jahren …
das ‹Felix› wär mir lieber. Und: Halt dich da raus, so weit du kannst. Es gibt
Wichtigeres.»
Er legte auf. Die Kellnerin hatte nicht gewartet, bis Palm sein Gespräch
beendet hatte. Sie hatte das Bier so auf den Tisch geknallt, dass es leicht
überschwappte und Flecken auf Palms abgelegte Sonnenbrille klebte. Palm griff
nach dem Glas, trank einen Schluck, legte eine Zwanziger-Note auf den Tisch und
setzte sich die bekleckerte Brille auf. Die Flecken auf dem Brillenglas
veränderten den Blick auf das Lokal kaum. Palm verliess den Schuppen.
Stahl war überrascht, wie flink die Wildkatze ihre Krallen
nach ihm ausgefahren hatte. Nur einen Moment lang war er nicht achtsam gewesen,
hing dem Gespräch mit Palm nach. «Es gibt Wichtigeres», hatte Palm gesagt.
Stahl fragte sich, wie man «Wichtigeres» definierte. Und aus welcher
Perspektive Umstände für den einen weniger wichtig, für den anderen hingegen
existenziell wurden. Albin war tot, und jetzt, da er in dessen Wohnung den
Vatikan und Jahre seiner Prägung roch, schien ihm nichts wichtiger, als dem
toten Freund die letzte Ehre zu erweisen und ihm im Nachhinein Zeit zu widmen.
Er hatte die bewusstlose junge Frau auf dem Teppich vergessen. Seine
rechte Wange brannte von den Fingernägeln, die sich dort hineingekrallt hatten.
Er wollte ihr nicht das Handgelenk brechen, aber sie würde ihren Griff nur
lockern, wenn sie ihrerseits Schmerz spürte. Stahl löste sich aus der Klammer.
Die junge Frau schrie auf und hielt sich schmerzverzerrt die rechte
Achselhöhle. Dort hatte ihr Stahl mit den Fingerkuppen seiner
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