Mord im Nord
hinaus.
Er hielt kurz inne und inhalierte die frische Luft: Zürich im September.
Heimat. Es schien ihm eine Ewigkeit, dass er hier gewesen war.
Cecilia starrte auf den Bücherschatz und holte tief Luft. Wo
beginnen? Das Regal vor ihr hatte eine Länge von etwa sechs Metern und reichte
bis unter die hohe Decke. Die Tablare, feiner italienischer Nussbaum, glänzten
schlicht und zurückhaltend; die Bücher sollten zur Geltung kommen. Das taten
sie. Unzählige Erstausgaben, edle Sammlungen von Denkern und Dichtern:
streitsüchtige Philosophen bedrängten friedvolle Theologen, Praktiker konkurrierten
mit Theoretikern, Wissenschaftler feilschten mit Künstlern.
Cecilia musste aufpassen, sich nicht bei jedem Buch zwischen den Seiten
zu verlieren, sondern das zu tun, wozu sie hier war: die Folianten in Kartons
zu verpacken, um sie dann ins Antiquariat zu transportieren. Allein konnte sie
das niemals schaffen. Linus hatte sich mal wieder verspätet. Er würde dem Verkehr
die Schuld geben, aber Cecilia ahnte Arges. Er hatte wieder begonnen zu saufen.
Das Ende des Sommers war eingeläutet. Sobald die Altweiber ihre Fäden spannten,
griff Linus zur Flasche. Pünktlich zu Weihnachten würde er sich dann selbst auf
Entzug setzen und mit seiner Ungeniessbarkeit die Familienfeier zerstören. So
lief es jedes Jahr. Am besten ertrug man ihn von Mai bis Ende August. Heute war
aber der 5. September und Sonntag dazu. Cecilia mochte nicht daran denken,
dass sie täglich mit Linus zu tun haben würde. Aber sie hatte Tante Hedwig
versprochen, so lange auszuhelfen, bis sie nicht mehr an Krücken gehen musste.
Das neue Hüftgelenk durfte nicht zu früh belastet werden, wollte Hedwig wieder
die Alte werden. Und mit fünfundsechzig heilten die Wunden eben nicht mehr so
schnell. Vor allem, wenn man, statt sich zu bewegen, lieber unzählige Zigarren
nebst einer Flasche Rotwein genoss und sich tagein, tagaus im Ohrensessel zum
Literaturstudium lümmelte.
Ohne die finanzielle Unterstützung und die Kontakte von Tante Hedwig
hätte sich Cecilia ihr Studium niemals leisten können. Viele wollten
Journalisten werden, aber nur wenige schafften es, gelesen zu werden. Hedwig
kannte Leute, die wichtig waren, und Cecilia hatte es sich längst abgeschminkt,
nur mit ihren Fähigkeiten allein Karriere zu machen. Sie wusste, dass man auch
Gelegenheiten ergreifen musste, wenn man es nach oben schaffen wollte. Lange genug
hatte sie für die «Fabrikzeitung» geschrieben. Jetzt war sie neunundzwanzig und
wollte Leitartikel verfassen, die diskutiert wurden. Am liebsten hätte sie aber
ein grosses Projekt gehabt, für das sie recherchieren durfte. Wie ein Regenwurm
im Komposthaufen konnte sie sich in Quellentexten verkriechen und sich von
einer Information zur nächsten fressen. Allerdings waren solche Geschenke
keinem Verleger der Welt abzutrotzen. Zumindest nicht, wenn man Cecilia Fetz
hiess und bislang nur Porträts über Underground-Bands und Graffiti-Künstler
vorzuweisen hatte, und nebenbei für ein Juwelier-Magazin alte Kriminalfälle auf
eine Seite zusammenstutzen musste. Ein grosses kulturelles Thema, besser noch
ein Skandal, der die Gesellschaft interessieren und bewegen würde, bei dem man
Zeit hatte, sauber zu arbeiten – das wäre was. Wenn Hedwig mit ihrem Erbe
vorzeitig rausrücken würde, könnte Cecilia sich das Projekt sogar auf eigene
Faust finanzieren. Danach wäre sie dick drin im Geschäft.
Cecilia wischte ihren Tagtraum mit einem Atemzug weg und warf das dicke
Buch, das sie gerade aus dem Regal genommen hatte, in den Karton zu den anderen
Folianten. Es klatschte auf und staubte.
Im Schloss der Wohnungstür drehte sich ein Schlüssel. Besass Linus auch
einen? Cecilia dachte, Hedwig hätte nur einen von Albin Studer erhalten. Der
Tod des alten Gardisten wäre vielleicht auch eine Story, aus der man mehr
machen könnte. Aber die hatten sich längst andere geschnappt; ausserdem war es
nur eine Geschichte für allenfalls drei Tage: «Junkie erschlägt Ex-Gardisten».
Manche würden die alten Diskussionen um den Drogenmissbrauch und die
Beschaffungskriminalität heraufbeschwören. Dabei würden sie in den Archiven der
achtziger und neunziger Jahre kramen. Alles schon gesagt.
Sie drehte sich nicht um, als sie Schritte hinter sich hörte.
«Du kannst die ersten Kartons direkt runterbringen. Ich würde gerne vor
Mittag die erste Fuhre in den Laden schaffen», sagte sie und nahm den
Schopenhauer, um ihn in einem der Kartons zu
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