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Mord im Orientexpress

Mord im Orientexpress

Titel: Mord im Orientexpress Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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konstruiertes Puzzle, so ausgelegt, dass jedes neue Teilchen, das zum Vorschein kam, die Auflösung des Ganzen nur noch erschwerte. Wie mein Freund Monsieur Bouc bemerkte, erschien dieser Fall auf eine geradezu phantastische Weise unmöglich! Und das war genau der Eindruck, der entstehen sollte.
    Erklärte diese Lösung alles? Ja. Die Art der Wunden – jede war ihm von einer anderen Person beigebracht worden. Die künstlichen Drohbriefe – künstlich schon deshalb, weil sie unwirklich waren, geschrieben zu dem einzigen Zweck, sie als Beweisstücke vorzulegen. (Es gab zweifellos auch echte Briefe, die Ratchett sein Schicksal ankündigten; MacQueen hat sie vernichtet und die anderen dafür untergeschoben.) Dann Hardmans Märchen, Ratchett habe sich an ihn gewandt – das war natürlich von vorn bis hinten erlogen; die Beschreibung des geheimnisvollen ‹kleinen Mannes mit dunklem Teint und weibischer Stimme› – eine Personenbeschreibung, die den Vorzug hatte, keinen von den echten Schlafwagenschaffnern zu belasten und auf einen Mann ebenso wie auf eine Frau zu passen.
    Die Idee, Ratchett zu erstechen, mag auf den ersten Blick sonderbar anmuten, aber bei näherem Hinsehen käme nichts anderes den gegebenen Umständen besser entgegen. Mit einem Dolch kann jeder umgehen, der Starke wie der Schwache, und er macht keinen Lärm. Ich stelle mir vor – wobei ich mich allerdings irren kann –, dass alle, einer nach dem anderen, durch Mrs. Hubbards Abteil in Ratchetts verdunkeltes Abteil gegangen sind und – einmal zugestochen haben. Sie selbst werden nie wissen, welcher Stich ihn nun wirklich getötet hat.
    Der letzte Brief, den Ratchett wahrscheinlich auf seinem Kopfkissen vorfand, wurde geflissentlich verbrannt. Solange nichts auf den Fall Armstrong hinwies, bestand nicht der kleinste Anlass, einen der Reisenden im Zug zu verdächtigen. Man würde einen Täter von außen vermuten, und der ‹kleine Mann mit dem dunklen Teint und der weibischen Stimme› wäre tatsächlich von einem oder mehreren Fahrgästen beim Verlassen des Zuges in Brod gesehen worden.
    Ich weiß nicht, was sich genau abgespielt hat, als die Verschwörer entdeckten, dass dieser Teil ihres Plans infolge des Missgeschicks, das den Zug ereilte, undurchführbar geworden war. Ich vermute, dass in aller Eile eine Beratung stattfand, in der man beschloss, die Sache durchzuziehen. Es war zwar klar, dass nun jeder einzelne Reisende in Verdacht geraten würde, aber für diese Möglichkeit war ja schon vorgesorgt. Zusätzlich erforderlich war nur noch eine weitere Vernebelung des Geschehens. Also wurden zwei so genannte ‹Hinweise› im Abteil des Toten ausgelegt – einer, der Colonel Arbuthnot belastete (der das sicherste Alibi hatte und dessen Beziehung zur Familie Armstrong wohl am schwersten nachzuweisen war), und der zweite, das Taschentuch, das die Fürstin Dragomiroff belastete, die auf Grund ihrer gesellschaftlichen Stellung, ihrer besonders zarten Statur und des Alibis, das ihre Zofe und der Schlafwagenschaffner ihr gaben, praktisch unangreifbar war. Um für noch mehr Verwirrung zu sorgen, wird zusätzlich eine klassische falsche Fährte in Gestalt der geheimnisvollen Frau im roten Kimono gelegt. Wiederum soll ich selbst zum Zeugen für die Existenz dieser Frau gemacht werden. Ich höre einen kräftigen Schlag gegen meine Tür, und als ich sie öffne, sehe ich den roten Kimono in der Ferne verschwinden. Eine kluge Auswahl von Personen – der Schaffner, Miss Debenham und Mr. MacQueen – wird die Frau ebenfalls gesehen haben. Es muss jemand mit Humor gewesen sein, der auf die Idee kam, den roten Kimono ausgerechnet in meinen Koffer zu legen, während ich im Speisewagen beim Verhör saß. Woher das Kleidungsstück ursprünglich stammte, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich nehme an, es gehört der Gräfin Andrenyi, denn in ihrem Gepäck befindet sich nur ein sehr schickes Negligé aus Chiffon, das mehr Nachmittagskleid als Morgenmantel ist.
    Als Mr. MacQueen erfuhr, dass der Brief, den man so fürsorglich verbrannt hatte, teilweise der Vernichtung entgangen und ausgerechnet das Wort ‹Armstrong› noch lesbar war, muss er das unverzüglich allen anderen mitgeteilt haben. In diesem Moment wurde es brenzlig für die Gräfin Andrenyi, worauf ihr Gatte sogleich an ihrem Pass manipulierte. Es war das zweite Pech.
    Nun gab es noch einen weiteren Punkt zu bedenken. Vorausgesetzt, meine Theorie über das Verbrechen war richtig – und ich glaube, sie ist

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