Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
Seglerhaus am Wannsee hat uns das Boot großzügigerweise zur Verfügung gestellt, und wir sind für seine Unversehrtheit verantwortlich.«
Plötzlich schoss Moses in die Höhe. »Dir geht es um Verantwortung«, sagte er, »um Ehre und Stolz, aber für mich steht mehr auf dem Spiel. Begreifst du das nicht? Bei der Übungsregatta geht es um mein Leben.« Seine Augen liefen über, und Tränen rannen über sein Gesicht.
Der überraschende Gefühlsausbruch besänftigte Otto sofort. Er fasste seinen Leibdiener an den Arm und sagte: »Vielleicht habe ich einen Fehler begangen, als ich in die Übungsregatta eingewilligt habe, aber das kann ich nicht mehr ändern. Es kann sein, dass wir am Sonntag verlieren werden, aber wir dürfen unter keinen Umständen einen Rückzieher machen. Hörst du? Wenn wir den Kampf aufgeben, geben wir uns selber auf.«
»Otto, das sind doch nur Worte. Professor von Trittin ist ein erfahrener Regattasegler, und wir sind blutige Anfänger. Er wird uns eine vernichtende Niederlage zufügen, von der ich mich nie mehr erholen werde.«
Otto drückte noch einmal tröstend Moses’ Oberarm und sagte: »Bleib hier stehen. Ich komme gleich zurück und hol dich ab. Dann geht das Training weiter.« Mit einem Kopfsprung hechtete er in die Havel.
Affenhaus im Zoologischen Garten
Commissarius Funke kniete sich neben die blutigen Schuhspuren. Es war ein Glück, dass er das Affenhaus bisher nur für das Zoopersonal freigegeben hatte. Nachdem er Wilhelm Maharero aus der Untersuchungshaft entlassen hatte, konnte er so den Tatort noch einmal untersuchen und sich Gedanken über einen neuen Ermittlungsansatz machen.
Er verglich das Sohlenprofil mit der von ihm angefertigten Zeichnung, die eine detailgetreue Wiedergabe war. Die Schuhgröße war eher klein, die Schrittlänge hingegen groß. Sie könnten es mit einem kleinwüchsigen Mann zu tun haben, der schnell gelaufen war, oder mit einem großen Mann, der kleine Füße hatte. Wenn er genau darüber nachdachte, fielen ihm noch weitere Möglichkeiten ein, sodass er nur eine Feststellung mit Sicherheit treffen konnte: Die Fußspuren würden ihm auch nach der zweiten Untersuchung keinen entscheidenden Hinweis liefern.
Der Commissarius trat an das hüfthohe Absperrgitter und öffnete die kleine Pforte. In der schmalen Gasse zwischen den Käfigen und dem Besucherraum schritt er an einigen Schimpansen vorbei, die »uh, uh, uh« machten, ihre großen gelben Zähne bleckten und ihre Brustwarzen in die Länge zogen. Die Tür zur Wärterstube stand offen, und im Inneren saß ein Mann in einer grauen Uniform an einem Tisch und schnitt mit einem Messer Gemüse in kleine Stücke. Kurz sah er von seiner Beschäftigung auf und sagte breit grinsend: »Gehen Sie mal ruhig durchs Pflanzenhaus. Ich hab die Plagegeister alle verhaftet.«
»Verbindlichsten Dank, mein Bester«, sagte der Commissarius erleichtert. Bei seinem letzten Besuch hatte sich ein anfänglich sehr zutraulich wirkendes Schmuseäffchen mit einem allerliebsten Gesicht als besonders rabiat entpuppt. Nachdem es zunächst auf seiner Schulter gesessen und sich an ihn geschmiegt hatte, hatte es plötzlich seine guten Manieren vergessen. Es hatte wild an seiner Perücke gezerrt und ihm ein halb verdautes Stückchen Gurke ins Gesicht gematscht. Ein solches Erlebnis musste er kein zweites Mal durchmachen.
Der Commissarius ging durch die Wärterstube und trat durch eine zweite Tür. Er stieg eine steinerne Treppe hinauf und gelangte in das helle Pflanzenhaus, in dem allerlei exotische Palmen, Büsche und Sträucher für ein affenfreundliches Klima sorgten. Von hier aus gelangte er durch eine stählerne Tür in den Außenkäfig.
Salomon Hirsch war bäuchlings auf einen quadratischen Feldstein gelegt worden, bevor ihm die tödlichen Wunden zugefügt worden waren. Der riesige Aufwand, den der Täter betrieben hatte, die gezielte Lungenentnahme und die spätere Zurschaustellung des Leichnams mussten eine tiefere Bedeutung haben. Und warum hatte der Mörder das Affenhaus als Tatort gewählt? Hatte er ausdrücken wollen, dass das Opfer auf einer Stufe mit den Tieren anzusehen war? Hatte er sagen wollen, dass das Opfer eigentlich in einen Käfig gehörte? Hatte er es gezielt herabwürdigen und entmenschlichen wollen? Salomon Hirsch war mosaischen Glaubens gewesen, und die antisemitischen Hetzblätter hatten in der Vergangenheit seine Religionsgemeinschaft ständig mit verschiedenen Tierrassen gleichgesetzt.
Funke wandte
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