Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
weitergehen konnte. Früher oder später musste er eine Entscheidung treffen, aber bis zu diesem Zeitpunkt war er noch im Dienst und hatte eine Aufgabe zu erledigen. Der Polizeipräsident vertraute auf seine Fähigkeiten, und er wollte dieses Vertrauen nicht enttäuschen.
Der Commissarius schnipste ein Staubkorn von seiner Schulter, verdrängte seine Überlegungen zu Holle und dem Erpresser und widmete sich wieder dem Tatort. Er betrachtete die zahllosen Blutspritzer, Rinnsale und kleinen rotbraunen Teiche, die sich rings um den Feldstein gebildet hatten. Der Täter hatte ein Blutbad angerichtet und war äußerst brutal vorgegangen, was so gar nicht zu der Hinterlassenschaft passen wollte, die sie am Fuße eines Kletterbaumes gefunden hatten. Dort waren sie auf seinen Mageninhalt gestoßen. In dem Erbrochenen hatten sie Würstchenreste und Kartoffelstücke ausmachen können. Vor, während oder nach der Tat hatte der Mörder sich übergeben. War er so zartbesaitet, dass seine Vorgehensweise ihm Übelkeit bereitet hatte? Möglicherweise war er gar kein brutaler Mensch und hatte sich zu der Tat zwingen müssen. In diesem Falle würde ein Überzeugungstäter mit einem religiösen, politischen oder rassistischen Motiv durchaus in Frage kommen.
Während der Commissarius diese Überlegungen anstellte, griff er nach dem Beweismittelkoffer und ging ins Pflanzenhaus, wo er auf den Tierpfleger traf, der gerade das geschnittene Gemüse in Blechnäpfe füllte und diese durch eine Luke in die Innenkäfige schob.
»Sie können den Außenpavillon jetzt reinigen. Meine Arbeit ist beendet«, sagte der Commissarius und blickte auf den Gürtel des Mannes, von dem ein Stahlring mit diversen Schlüsseln hing. Ihm fiel ein, dass sie weder an den Türen noch an den Fenstern Einbruchsspuren festgestellt hatten. »Wer hat eigentlich einen Schlüssel zum Affenhaus?«
»Na wir Tierpfleger«, erwiderte der Mann und rieb sich den Nacken. »In der Verwaltung hängt Ersatz, und der Direktor hat natürlich auch einen.«
»Wie viele Personen haben damit Zugang?«
»Eigentlich alle Zooangestellten.«
» Merci beaucoup pour tout «, sagte der Commissarius und begab sich auf den Weg nach draußen. Wegen des Zigarrenetuis mit der Namensgravur hatten sie zunächst alle anderen Ermittlungen hintangestellt. Die erneute Begehung des Tatortes hatte ihm einen neuen Ansatz nahegelegt. Salomon Hirsch war Jude gewesen, sodass ein antisemitischer Hintergrund möglich war. Sie brauchten eine Liste aller Zooangestellten. Vielleicht unterhielt einer von ihnen Kontakte zu radikalen Kreisen.
Während er sich zum Direktorenwohnhaus begab, fielen ihm weitere Fragen ein: Von wem war das Zigarrenetui mit der Gravur entwendet worden? Wie war es in den Zoologischen Garten gelangt? Hatte jemand gezielt den Verdacht auf Wilhelm Maharero gelenkt? Hatte er Feinde?
Bei der Beantwortung würden Dr. Sanftleben und Moses ihm wertvolle Dienste leisten können. Nachdem sie dem Hereroprinzen ein Alibi beschafft hatten, würden sie bei seinen Stammesbrüdern und -schwestern auf Vertrauen stoßen. Funke würde dem Kriminologen gleich nach seiner Rückkehr ins Polizeipräsidium ein Telegramm schicken und ihn bitten, sich morgen zusammen mit seinem Leibdiener bei der Berliner Gewerbeausstellung einzufinden.
Bahnhof Friedrichstraße
Er konnte sich nicht erinnern, wie er auf den Bahnsteig gekommen war. Er wusste auch nicht, was er hier wollte. Er stand einfach nur da – dumpf, leblos und gefühllos – und schaute auf die Gleise. Immer wieder fuhren Züge ein, die Passagiere aufnahmen und andere aus den Waggons entließen. Einige von ihnen hatten es so eilig, dass sie in ihn hineinliefen. Sie stießen Verwünschungen aus, weil er im Weg gestanden hatte, aber es war ihm gleichgültig.
Seine Aufgabe verlangte ihm viel ab – manchmal zu viel. Wie so oft in den vergangenen Jahren hatte ihn eine Leere erfasst, die kaum zu ertragen war. Tränen liefen über seine Wangen, ohne dass er Traurigkeit empfand. Es war, als würde ein Teil von ihm weinen, zu dem er die Verbindung verloren hatte. Der andere Teil konnte noch arbeiten, essen und trinken. Er konnte sogar betäuben, entführen und töten, aber auch dabei spürte er nichts. Er war dann wie eine Maschine.
Warum machte er nicht Schluss? Gleich würde eine Stadtbahn einfahren. Er könnte sich einfach vor die Lokomotive werfen und hätte alles überstanden. Die Vorstellung, wie die stählernen Räder seinen Leib erfassten, wie
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