Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
getan?«
»Du bist wahrscheinlich genauso gut über mich informiert wie ich über dich und fragst nur aus Höflichkeit.«
»Also, wenn ich ehrlich bin …«
»Nachdem meine Eltern erfolglos versucht hatten, mich mit einem gut situierten Mann zu verheiraten, gestatteten sie mir endlich, mich am Lette-Verein ausbilden zu lassen. 1887 legte ich mein Zeichenlehrerinnenexamen ab. 1891 ging ich nach München, wo ich an der Damenakademie des Münchner Künstlerinnenvereins studierte. Im letzten Jahr bin ich nach Berlin zurückgekehrt, um eine Stelle als Lehrerin anzutreten. Ich verdiene schon seit Jahren mein eigenes Geld.«
»Das ist ja kolossal«, sagte Otto.
»Ach ja! Und Vegetarierin bin ich auch noch. Falls du also auf die Idee kommen solltest, mich zum Essen auszuführen, kann ich dir eine sehr gute vegetarische Restauration empfehlen.«
Otto wusste, dass die sogenannte harmonische Lebensweise immer populärer wurde. In dem vergangenen Jahr waren zahlreiche Bücher erschienen, welche die Vorzüge der Pflanzenkost in den höchsten Tönen anpriesen. In Oranienburg hatten einige Berliner sogar die erste vegetarische Siedlung gegründet.
Otto erklärte den Grund seines Hierseins. Er versuchte, die pikante Seite auszublenden, aber aus irgendeinem Grund wollte es ihm nicht gelingen. Vielleicht, weil ihm aufgefallen war, dass aus dem seltsamen Mädchen eine überaus anziehende Frau geworden war. Vor seinem geistigen Auge tauchte immer wieder der nackte Hereroprinz Wilhelm Maharero auf, der sich mit seinem stattlichen schaukelnden Glied der zierlichen Igraine näherte und … Noch bevor er das erste Wort herausgebracht hatte, wusste er, dass er sich im Ton vergreifen würde. »Stimmt es«, platzte er heraus, »dass du ein geschlechtliches Verhältnis zu Wilhelm Maharero unterhältst?«
»Was?!«, sagte Igraine und sah ihn völlig entgeistert an. »Du kommst nach über neunzehn Jahren zu mir und wagst es, in diesem Ton mit mir zu sprechen? Was bildest du dir ein?«
»Also –«, setzte Otto etwas unbeholfen an.
»Damit du es nur weißt: Wilhelm war in der Nacht vom zweiten auf den dritten Juni bei mir. Und zwar bis zu den frühen Morgenstunden. Was wir getan oder nicht getan haben, geht dich nichts an. Vor jemandem wie dir muss ich mich nicht rechtfertigen. Und jetzt hab ich Wichtigeres zu tun, als mich von dir anklagen zu lassen. Leb wohl!«
Otto trottete mit hängendem Kopf über das Schwemmland und dachte: Das ist ja prächtig gelaufen. Natürlich war es unmoralisch, wenn sich eine unverheiratete Frau auf ein Verhältnis einließ, noch dazu mit einem Herero. Sollte diese Affäre öffentlich werden, könnte sich Igraine in der besseren Gesellschaft nicht mehr sehen lassen, aber sie hatte recht. Sie standen sich nicht so nah, dass er sich ein Urteil erlauben durfte. Was war nur in ihn gefahren? Es ging ihn nichts an, was sie mit ihrem Leben anfing, und er hatte bestimmt kein Recht, sich zu ihrem Tugendwächter aufzuspielen. Er hatte auch gar nicht die Zeit und die Lust, sich mit ihrem Intimleben zu befassen. Normalerweise genügte es ihm vollkommen, wenn er sein eigenes Verhalten von Zeit zu Zeit hinterfragte. Und gerade eben hatte er sich einen Ausrutscher geleistet. Warum hatte er sich nur so hinreißen lassen?
Er betrat den Bootsanleger und ging bis zur Spitze vor, wo Moses sich auf den Rand gesetzt hatte und seine Beine über dem Wasser baumeln ließ. Eine Windböe fuhr in das Schilf und ließ es rascheln. Ein Fischreiher sprang von einem Holzpflock, gewann mit einigen Flügelschlägen an Höhe und flog über seinem Jagdrevier dahin.
»Wie ist es gelaufen?«, fragte Moses.
»Wilhelm Maharero hat ein Alibi«, erwiderte Otto. »Ich begebe mich gleich nach unserer Rückkehr zur Telegrafenstation und schicke Commissarius Funke ein Telegramm.«
»Und die Begegnung mit Igraine?«
»Frag besser nicht. Wo ist das Boot?«
Moses zeigte vage in südwestliche Richtung. »Es ist abgetrieben. Du hast wohl vergessen, das Ankertau festzubinden.«
»Was?!« Otto stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte den Hals. Tatsächlich trieb das Boot in einiger Entfernung stromabwärts. »Warum sitzt du hier noch rum? Warum bist du nicht hinterhergesprungen?«, fragte Otto und schlüpfte schon aus den Schuhen.
»Das hat doch keinen Sinn«, sagte Moses matt.
»Was hat keinen Sinn?«, fragte Otto und wurde langsam ärgerlich. Er befreite sich von seinen Hosenträgern und zog sich das Hemd über den Kopf. »Der Verein
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