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Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman

Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman

Titel: Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: emons Verlag
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sie ihn auf die Gleise drückten und ihn zu einem Brei aus Blut, Knochen und Gewebe zermalmten, hatte etwas Erlösendes. Er wäre seine Bürde los, er würde sich nicht mehr verstecken müssen, er würde alle körperlichen Gebrechen und allen irdischen Schmutz abschütteln. Er brauchte nur zwei Schritte vorzutreten – ins Gleisbett.
    In diesem Moment baute sich neben ihm ein Mann auf und stellte eine Ledertasche auf den Bahnsteig. Er trug einen braunen Bowlerhut mit Samtband und einen dunkelgrünen Reiseanzug. Aus seiner Westentasche zog er eine Taschenuhr, die an einer goldenen Kette hing, hielt sie sich ans Ohr und schüttelte sie ein paarmal. »Können Sie mir sagen, wie spät es ist? Meine Uhr ist stehen geblieben«, sagte er und schaute ihn an.
    Abrupt wandte er den Kopf ab und starrte auf den Boden. Das konnte kein Zufall sein; er war noch nie auf diese Weise angesprochen worden. Was planten sie? Hatten sie den Mann geschickt? Was steckte wirklich hinter der Frage? War es noch zu früh? Oder war es bereits zu spät? Wessen Zeit war gemeint?
    In einem Anfall von Panik schaute er zurück und sah überall Männer mit schwarzen Bärten, Frauen mit Kopftüchern und Kinder mit Schläfenlocken. Sogar der Bahnsteigschaffner und die Gepäckträger trugen Kippas. Sie alle starrten ihn an. Sie alle schwiegen, und trotzdem war es unübersehbar, dass sie nach demselben Plan handelten. Konnten sie sich verständigen, ohne zu sprechen? Durch Gedankenübertragung? Tauschten sie sich gerade aus?
    Schlagartig begriff er, was hier gespielt wurde. Er war so unglaublich dumm gewesen. Ja, jetzt kapierte er, warum er hergekommen war.
    Sie hatten ihn hierhergelockt!
    Sie wollten, dass er sich vor den Zug warf!
    Die Erkenntnis traf ihn mit solcher Wucht, dass er für einen Moment das Gleichgewicht verlor. Speichel lief ihm aus dem Mundwinkel, und seine Hände zitterten. Verlier jetzt nur nicht die Nerven, dachte er. Bewahr jetzt bloß die Ruhe.
    Verdammt noch mal – denk nach!
    Wenn er nicht mitspielte, wenn er sich nicht vor den Zug warf – würden sie ihn dann verschleppen? Würden sie ihn in einem dunklen Gewölbe ausbluten lassen wie die zahlreichen deutschen Knaben und Jungfrauen, die durch das Ritual bereits ihr Leben gelassen hatten? Warum kamen sie nicht und holten ihn?
    Es gab nur eine vernünftige Erklärung: Sie wollten oder konnten es nicht! Weil er noch nichts preisgeben hatte? Oder weil sie ihn noch nicht erkannt hatten? Er wusste es nicht, aber er durfte den Plan nicht verraten. Er musste auch verhindern, dass sie durch seine Schädeldecke sahen. Nur so würde er vollenden können, was er begonnen hatte.
    Er schlüpfte aus den Ärmeln seiner Jacke und zog den Kragen über seinen Kopf. Über seinem Gesicht hielt er das Kleidungsstück zusammen, sodass er rausschauen konnte. Sein Hinterkopf und die Schläfen waren durch den dicken Stoff gegen ihre Blicke abgeschirmt. Die andere Hand schob er unter den Rockschößen hervor und streckte sie in ihre Richtung, um seine Augen gegen die Hypnosestrahlen zu schützen.
    So rannte er durch die Halle des Bahnhofs Friedrichstraße und dachte an etwas, was zahllose andere Berliner gerade auch dachten und ihn in der Masse untergehen lassen würde, bis er wieder sicheres Terrain erreicht hatte: Der Juni ist verregnet, es ist der kälteste Juni seit Jahren, noch nie ist so viel Regen im Juni gefallen …
    Berliner Gewerbeausstellung in Treptow
    »Otto, was ist los?«, fragte Moses am nächsten Tag. »Du bist so still. So kenne ich dich gar nicht.«
    »Es ist nichts«, erwiderte Otto, öffnete die Waggontür und kletterte auf den Bahnsteig des Ausstellungsbahnhofes, der eigens für die Berliner Gewerbeausstellung errichtet worden war. Das riesige Satteldach stand auf einer Pfahlkonstruktion, die nach allen Seiten hin offen war, sodass ein zugiger Wind herrschte. In seiner Hand hielt er eine Packung Leibniz-Biscuits, die er noch nicht angerührt hatte. Einer plötzlichen Eingebung folgend, fragte er eine vorbeigehende Mutter, ob er das Gebäck ihrer Tochter schenken dürfe, und die Frau willigte zur großen Freude des kleinen Mädchens ein, die sich mit einem Knicks und einem strahlenden Lächeln bedankte.
    »Du wolltest die Biscuits doch unbedingt als Reiseproviant mitnehmen«, sagte Moses. »Wir mussten sogar umkehren, weil ich sie vergessen hatte. Und jetzt verschenkst du sie?«
    »Vielleicht bin ich in der Vergangenheit etwas kräftig geworden«, murmelte Otto.
    »Du achtest doch

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