Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
seiner Köchin gehörte. Ihm lief schon das Wasser im Mund zusammen, aber der Gedanke an die nächste Begegnung mit Igraine ließ ihn standhaft bleiben. Er wusste zwar noch nicht, wie er ein Treffen einfädeln sollte, aber zu gegebener Zeit würde er die richtige Idee haben.
Er setzte sich in seinen Ohrensessel und griff nach einem dünnen Büchlein, das sich seit vielen Jahren in Antisemitenkreisen großer Beliebtheit erfreute. Der Verfasser hieß Wilhelm Marr, und der Titel lautete: »Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum. Vom nicht confessionellen Standpunkt aus betrachtet«. Otto hatte sich von der Lektüre einen Einblick in die Gedankenwelt eines Antisemiten erhofft und war nicht enttäuscht worden.
Das Buch war eine Aneinanderreihung von Behauptungen, die den Juden sehr schlechte Eigenschaften und das Streben nach Weltherrschaft unterstellten. Bei diesem Unterfangen würden sie mit List und Verschlagenheit vorgehen, worunter besonders die Germanen zu leiden hätten, die dem skrupellosen Ehrgeiz des auserwählten Volkes keine ausreichende geistige Widerstandskraft entgegenzusetzen hätten. Beweise führte der Verfasser nicht an. Vielmehr belegte er seine Behauptungen durch weitere Behauptungen, die sich nur durch noch ein höheres Maß an Pathos, Selbstmitleid und Verfolgungswahn auszeichneten. Dementsprechend führte er am Ende aus, dass die Götterdämmerung bevorstehe, und schloss mit dem theatralischen Ausruf: » Finis Germaniae! « , wodurch er die Angst vor einer bevorstehenden Schreckensherrschaft der Juden schüren wollte, was angesichts ihres Bevölkerungsanteils von einem Prozent geradezu lächerlich klang.
Otto fragte sich, wie ein vernünftig denkender Mensch sich von einem solchen Machwerk beeindrucken lassen konnte, aber genau das war wohl der Punkt: Ein Antisemit dachte nicht vernünftig. Er wollte seinen Hass schmecken und spüren wie ein berauschendes Getränk.
Otto musste an Theodor Mommsen , den berühmten Historiker, denken, der bei einem Interview einmal gesagt hatte: »Ich habe […] immer wieder gegen die ungeheure Schmach protestiert, welche Antisemitismus heißt. Aber es nützt nichts. Es ist alles umsonst. Was ich Ihnen sagen könnte, was man überhaupt in dieser Sache sagen kann, das sind doch immer nur Gründe, logische und sittliche Argumente. Darauf hört doch kein Antisemit. Die hören nur auf den eigenen Hass und den eigenen Neid, auf die schändlichsten Instinkte. Alles andere ist ihnen gleich. Gegen Vernunft, Recht und Sitte sind sie taub. […] Der Antisemitismus ist nicht zu widerlegen, wie keine Krankheit zu widerlegen ist. Man muss geduldig warten, bis die im Grunde doch gesunde Natur des Volkes sich von selbst aufrafft und den faulen Stoff aus sich wirft.« Hoffentlich, dachte Otto, würde das deutsche Volk nach den fürchterlichen Pogromen des Mittelalters nicht weitere schlimme Ereignisse brauchen, um die zerstörerische Kraft des Antisemitismus zu begreifen und sich von diesem Irrglauben loszusagen.
In diesem Moment schellte die Türglocke, und er fragte sich, wer ihn zu dieser Stunde noch besuchen könnte. Nach einem Blick auf die Standuhr wusste er, dass es schon halb elf Uhr durch war. Vielleicht hat Commissarius Funke wieder eine Polizeikutsche geschickt, mutmaßte er und legte das dünne Büchlein zurück auf den Beistelltisch. Vielleicht war wieder ein Mord passiert.
Weil Moses mit Hingabe Klavier spielte und das Hausmädchen Lina schon zu Bett gegangen war, stemmte er sich aus dem Ohrensessel hoch und begab sich in die Eingangshalle. Als er die Haustür öffnete, erlebte er eine Überraschung.
»Mein Vater hat mir erzählt, dass du und dein Leibdiener an einer Regatta teilnehmt, obwohl ihr gar nicht segeln könnt. Ich dachte mir, dass euch ein wenig Nachhilfeunterricht nicht schaden kann.«
»Igraine!«, sagte Otto. Sie hatte ihr schwarzes Haar in der Mitte gescheitelt, sodass ihr klares Gesicht gut zur Geltung kam. Ihre grauen Augen schimmerten feucht. Ein dunkler Samtumhang lag über ihren Schultern, der am Kragen mit schwarzen wuchernden Blumenornamenten bestickt war, bei deren Anblick Otto an den Gedichtband »Les fleurs du mal« – »Die Blumen des Bösen« – von Charles Baudelaire denken musste, den er als junger Mann gerne gelesen hatte.
»Freust du dich nicht, mich zu sehen?«, fragte sie.
»Doch, sehr!«
»Warum schaust du dann so erschrocken drein?«
»Ich sehe in meinem Hausrock und meinen Hausschuhen nicht gerade
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